Von: mk
Bozen – Bei Lawinenabgängen, Blitzunfällen oder Erdrutschen übersteigt die Anzahl der Verletzten oft jene der Notärzte – die Fachsprache nennt dies einen Massenanfall. Einsatzkräfte müssen dann schnell entscheiden, welche Verletzten prioritär zu behandeln sind. Um Notärzte dabei zu unterstützen, die Bergung effizient zu gestalten und dadurch möglichst viele Menschenleben zu retten, untersuchten internationale Experten insgesamt 198 Massenanfälle seit 1956 und erarbeiteten Leitlinien, die kürzlich im Fachjournal „High Altitute Medicine & Biology“ veröffentlicht wurden.
„Mehrere Verletzte bedeuten meist auch Engpässe bei medizinischem Material wie Beatmungsgeräten oder Monitoren“, erklärt Hermann Brugger, Leiter des Instituts für alpine Notfallmedizin von Eurac Research. Daher nehmen die Rettungskräfte als erstes eine „Triage“ vor: So nennt sich der Vorgang, bei dem die Einsatzkräfte eine Ersteinschätzung der Verletzten vornehmen und zwischen Patienten mit guter und schlechter Prognose unterscheiden. „Diese Wahl kann im Gelände durchaus schwierig sein“, ergänzt Brugger.
Wie bei Massenanfällen im urbanen Umfeld haben bei der Erstversorgung grundsätzlich Schwerverletzte vor Patienten mit leichteren Verletzungen Vorrang – außer beim Opfer bestehen keine Überlebenschancen. Im Gebirge müssen die Einsatzkräfte jedoch einige Besonderheiten beachten: Bei einem Blitzunfall werden beispielsweise zuerst Patienten ohne Lebenszeichen behandelt, weil diese reversibel sein können, während Verletzte mit Vitalfunktionen sich von selbst erholen.
Neben Blitzunfällen behandelt die Studie auch Lawinenabgänge, Skiliftunfälle und Erdrutschungen, bei denen mehrere Menschen verletzt oder in Gefahr sind. Zudem befassen die Experten sich eingehend mit Aspekten wie der Erstmobilisierung von Einsatzkräften, dem Aufbau der Befehlsstruktur, der Kommunikation zwischen den Einsatzkräften sowie dem Abtransport der Verletzten.
„Die Rettungsteams sind einem erhöhten Mortalitätsrisiko ausgesetzt – ihre Sicherheit hat daher oberste Priorität: Seit Ende der 50er Jahre kamen allein in Frankreich 107 Retter bei Einsätzen ums Leben. Aus diesem Grund ist eine angemessene Risikobewertung entscheidend. Auch externer Druck, etwa von Seiten der Medien oder Behörden, sollte die Sicherheit der Rettungskräfte nicht beeinträchtigen“, so Hermann Brugger.
Der Artikel ist frei zugänglich unter: https://www.liebertpub.com/doi/10.1089/ham.2017.0143