Er fordert, dass der Fall neu aufgerollt wird

Blutbad von Erba: Tarfusser schließt Justizirrtum nicht aus

Mittwoch, 19. April 2023 | 07:16 Uhr

Von: mk

Erba – Der vierfache Mord hat bereits damals italienweit für Entsetzen gesorgt. Drei Frauen und ein Kleinkind wurden in einem Appartement in Erba, einer Ortschaft in der Provinz Como, mit Messerstichen und den Schlägen einer Eisenstange getötet. Ein Ehepaar aus der Nachbarschaft wurde in allen drei Instanzen für schuldig befunden. Doch es mehren sich Stimmen, die einen verheerenden Justizirrtum nicht ausschließen – darunter auch Cuno Tarfusser, der stellvertretende Generalstaatsanwalt von Mailand.

Zu den Opfern zählen Raffaela Castagna, die Mutter des Buben im Alter von zwei Jahren und drei Monaten, Youssef Marzouk, seine Großmutter Paola Galli und Valeria Cherubini, eine Nachbarin, die aufgrund der Schreie zum Tatort eilte. Ihr Ehemann Mario Frigerio, dem die Täter eine Stichverletzung am Hals zugefügt hatten, überlebte dank einer Fehlbildung der Halsschlagader. Die Rettungskräfte waren zur Wohnung geeilt, nachdem dort ein Brand festgestellt worden war. Dabei wurden die Leichen geborgen.

In einem ersten Moment konzentrierten sich die Ermittlungen auf Azouz Marzouk. Der gebürtige Tunesier war der Ehemann von Raffaella Castagna und der Vater des kleinen Youssef. Damaligen Medienberichten zufolge hatte der Mann aufgrund von Drogendelikten Vorstrafen und befand sich wegen eines Strafnachlasses auf freiem Fuß, den das Parlament kurz zuvor beschlossen hatte. Zum Tatzeitpunkt hat er allerdings seine Eltern in seiner Heimat besucht.

Doch schon bald gerieten Olindo Romano und Rosa Bazzi ins Fadenkreuz der Ermittler. Das Eheapaar wurde am 2008 zu lebenslanger Haft verurteilt – zu Unrecht, wie Tarfusser glaubt. Der Urteilsspruch des Kassationsgerichts erfolgte am 4. Mai 2011.

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In einem Antrag, der 20 Seiten umfasst, fordert der ehemalige leitende Staatsanwalt von Bozen und Ex-Vizepräsident des Internationalen Strafgerichtshofs, dass der Prozess neu aufgerollt wird. Eine Entscheidung darüber müssen nun die Mailänder Generalstaatsanwältin Francesca Nanni und Generalanwältin Lucilla Tontodonati treffen, die darauf den Antrag eventuell ans Berufungsgericht in Brescia überstellen. Die Begründung des Antrags, die Tarfusser verfasst hat, umfasst noch einmal 58 Seiten und wurde am 12. April hinterlegt. Tarfusser schließt einen Justizirrtum nicht aus.

Die Beweise, die zur Verurteilung Olindo Romano und Rosa Bazzi geführt hätten, seien in einem Kontext herangereift, dessen Beschreibung als krankhaft eine Beschönigung wäre, schreibt Tarfusser in seinem Antrag. Auch die Verteidiger des Ehepaares plädieren separat noch einmal dafür, dass der Fall neu aufgerollt wird. Unter anderem berufen sie sich auf einen neuen Zeugen und wollen dies beim Berufungsgericht in Brescia vorbringen.

Italienischen Medienberichten zufolge könnte es sich um einen Tunesier handeln, der in Geschäfte mit dem Bruder von Azouz Marzouk verwickelt und darauf ins Visier der Finanzpolizei geraten war. Die Anwälte schließen nicht aus, dass es zu dem mehrfachen Mord im Zuge eines Krieges unter rivalisierenden Banden gekommen sein könnte. Laut Aussagen des Mannes seien in der Wohnung Drogen versteckt gewesen.

Tarfusser zieht in seinem Antrag die kardinalen Beweismittel in Zweifel – darunter die Aussage von Mario Frigerio, der Olindo Romano und Rosa Bazzi als Täter beschrieben hat, die Selbstbezichtigung des Ehepaares und den Blutfleck, der im Auto von Olindo Romano sichergestellt wurde. Das Blut soll von Valeria Cherubini stammen.

Laut Tarfusser sei das Gericht damals nie der Frage nachgegangen, wie das Blut in den Wagen gekommen war. Auch die sichere Aufbewahrung des Beweismittels wird in Zweifel gezogen.

Das Geständnis des Ehepaares sei laut Tarfusser falsch und aus Gefügsamkeit heraus entstanden. Mario Frigerio, der als einziger Zeuge die Bluttat überlebt hat, ist vor mehreren Jahren verstorben.

Tarfusser verweist auf neue Beweismittel, die aufgetaucht seien und kritisiert, dass damals nur in einer Richtung ermittelt worden sei. Am 14. Februar haben die Anwälte Fabio Schembri und Paolo Sevesi Tarfusser zwei Gutachten vorgelegt, die auf den neuesten forensischen Analysemethoden beruhen.

Bezirk: Bozen