Von: ka
Moskau – Im Westen wird seit Monaten gerätselt, wie Wladimir Putin es trotz der hohen Verluste seiner Armee schafft, dass Proteste der russischen Bevölkerung ausbleiben. Der vielleicht wichtigste Grund ist, dass der Zar von Moskau den Ukraine-Krieg fast nur mit Angehörigen der nicht slawischen Minderheiten und Ausgestoßenen führt und die großen Städte wie Moskau und Sankt Petersburg sowie die slawische Bevölkerung insgesamt schont. Damit erreicht er, dass aus Sicht der Russen das Gemetzel an der Front ein weit entferntes Ereignis bleibt.
Wie regierungskritische und unabhängige Organisationen wie Mediazone und Free Buryatia herausfanden, ist in einigen fernöstlichen Regionen der russischen Föderation der Blutzoll ungleich höher als in den überwiegend von Russen bewohnten Regionen westlich des Urals. Der Autonome Kreis der Tschuktschen, der Autonome Kreis der Nenzen, Burjatien und die Tuwinische Volksrepublik sind nicht nur allesamt Verwaltungseinheiten der Russischen Föderation, sondern haben auch sonst noch allerhand gemeinsam. Die vier Regionen, die sich entweder am eisigen Nordpazifik und an der Barentssee oder an der Grenze zur Mongolei befinden, sind durch extreme Armut, Abgeschiedenheit und geringe Bevölkerungsdichte gekennzeichnet. Zu allem Unglück weisen sie im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl auch die höchste Zahl toter Frontsoldaten auf.
Die unabhängige Website Mediazone und die im März 2022 von Angehörigen der burjatischen Diaspora gegründete Stiftung Free Buryatia veröffentlichen jeden Monat eine aktualisierte Statistik, in der die Zahl der getöteten russischen Soldaten pro hunderttausend Einwohner berechnet wird.
Im September wurden für die beiden fernöstlichen Republiken Tuwa und Burjatien traurige Werte von jeweils 57 und 55 toten Soldaten pro 100.000 Einwohner ermittelt. Die beiden Autonomen Kreise der Nenzen und Tschuktschen sowie die Regionen Magadan, Transbaikalien und Sachalin, die ebenfalls in Sibirien liegen, folgen in dieser traurigen Statistik des regionalen Blutzolls mit Werten zwischen 36 und 45 Gefallene pro 100.000 Einwohner.
Bei Betrachtung dieser Zahlen erklärt sich die zynische Strategie des Kremlherrschers von selbst. Bereits zu Beginn der „militärischen Sonderoperation“ verzeichneten gemessen an ihrer Bevölkerung die russischen Verwaltungseinheiten der ethnischen Autonomien und die benachteiligten Regionen, die ein deutlich unterdurchschnittliches Lohnniveau aufweisen, den höchsten Blutzoll.
Fast alle Militär- und Sozialanalytiker waren sich jedoch einig, dass dieser „Krieg der Armen“ ab einer bestimmten Verlustgrenze nicht mehr aufrechtzuerhalten sein würde. Insbesondere nach der von Putin angeordneten Teilmobilisierung im September 2022 galt es aus Sicht der Experten als selbstverständlich, dass auch die Söhne der ethnischen Russen der Verwaltungseinheiten westlich des Urals zum Fronteinsatz gerufen werden würden.
Dies war jedoch nicht der Fall. Die schrittweise Analyse der Daten der einzelnen Untersuchungen, wobei die Mitarbeiter der unabhängigen Organisationen verschiedene Parameter wie die Anzahl der Beerdigungen und die Verwendung der SIM-Karten der Smartphones auswerten und miteinander vergleichen, zeigt, dass in den entlegensten Gebieten der Russischen Föderation das Reservoir wehrfähiger Männer noch längst nicht erschöpft ist, was von der russischen Regierung schamlos ausgenutzt wird. In den genannten Verwaltungseinheiten Sibiriens nehmen die Gefallenenzahlen weiter zu.
Auffallend ist hingegen, dass in den russischen Großstädten sowie in den ethnisch rein russischen Gebieten immer gemessen an der Bevölkerung die Gefallenenzahlen sehr niedrig bleiben. Während die beiden fernöstlichen Republiken Tuwa und Burjatien jeweils 57 und 55 Gefallene pro 100.000 Einwohner aufweisen, liegt derselbe Wert für Sankt Petersburg bei schwachen 0,7 toten Soldaten. Auch in Moskau und in den für russische Verhältnisse wohlhabenden Regionen Zentralrusslands, wo der Kreml zumindest bis zu den Präsidentschaftswahlen am kommenden 18. März keine Proteste verursachen will, beträgt die Anzahl der Gefallenen pro 100.000 Einwohner weniger als eins.
Regierungskritische Organisationen und russische Dissidenten sprechen von Russen erster und zweiter Klasse. Einige radikale Dissidenten spekulieren sogar, dass es sich dabei um eine Strategie Putins handle, die es zum Ziel habe, die Anzahl der Nichtrussen zu verringern, was einer Art internen ethnischen Säuberung gleichkomme. „Am Ende dieses Krieges wird es nur noch slawische Russen geben“, meinen diese Stimmen.
Die Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialgeographie an der Moskauer Lomonossow-Universität, Natalia Subarewitsch, hingegen weist darauf hin, dass die „militärische Sonderoperation“ in der Ukraine ein Krieg sei, der von der großen russischen Peripherie geführt werde. Diese russische Peripherie – so Natalia Subarewitsch – bestehe aus den vielen kleinen Städten und Dörfern, in denen noch immer eine sowjetische Lebensweise herrsche, in denen die Bevölkerung schrumpfe und in der jede Form von Einkommen von der Unterstützung durch das föderale Zentrum abhängig sei. „In diesen Gebieten, in denen große Arbeitslosigkeit herrscht und es fast unmöglich ist, auf eine andere Weise Geld zu verdienen, ist die Armee ein wichtiger Arbeitgeber. In diesen Gegenden bietet sie vielen Menschen ein anständiges und vor allem sicheres Einkommen“, erklärt Natalia Subarewitsch.
Nur 21 Prozent der 143 Millionen Russen leben in der Hauptstadt und den sieben anderen Großstädten der Russischen Föderation. Putin hat keinen Mangel an Kanonenfutter. Er wird versuchen, seine Strategie der kriegerischen Erdrosselung der Ukraine fortzuführen.