Von: mk
Bozen – Am Sonntag, 3. Dezember ist „Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung“. Warum braucht es diesen Tag? Weil für Menschen mit Behinderungen auch im Jahr 2023 vieles nicht selbstverständlich und ihr Alltag immer noch voller Hürden ist. Trotz guter Gesetze sind sie noch immer in vielen Lebensbereichen benachteiligt.
Die Stufe vor dem Geschäft, die zu enge Tür beim Klo, der nicht funktionierende Aufzug, die Vorurteile bei der Arbeitssuche, der Kampf um Unterstützung, die schiefen Blicke in der Öffentlichkeit und so weiter und so fort: Dies sind die ganz alltäglichen Probleme, die Menschen mit Behinderungen wirklich behindern.
„Noch immer haben es Menschen mit einer Behinderung nicht so leicht, wie Menschen ohne eine Behinderung. Sie stoßen oft auf Hindernisse – egal, ob an der Schule, bei der Arbeit oder im Alltag“, sagt Dachverband-Präsident Wolfgang Obwexer.
Weltweit leben mehr als eine Milliarde Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen. In Südtirol hat etwa jeder zehnte Einwohner eine Behinderung. Der 1992 von den Vereinten Nationen ausgerufene internationale Tag der Menschen mit Behinderung soll jedes Jahr am 3. Dezember weltweit das Bewusstsein für die Belange der Menschen mit Behinderungen schärfen und den Einsatz für ihre Würde und Rechte fördern.
„Zwar sind die Rechte von Menschen mit Behinderung durch gute Gesetze garantiert, in der praktischen Umsetzung jedoch hakt es oft“, sagt Obwexer: „Es wird auch all zu leicht vergessen, dass es eine UN-Konvention gibt, die besagt, dass Menschen mit Beeinträchtigung das Recht haben, mit den gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gesellschaft zu leben. Doch Papier ist geduldig. In der Realität fehlt es an Betreuungsplätzen, es fehlt an Wohneinrichtungen, es fehlt das Personal.“
Immer wieder fordern Menschen mit Behinderungen deshalb ihre Rechte ein. „Vor allem die jüngere Generation von Menschen mit Behinderung betont die Notwendigkeit, in der Behindertenpolitik aus veralteten Denkweisen herauszuwachsen und mit der Zeit zu gehen. Sie haben eigene Vorstellungen von Lebensgestaltung und Selbstverwirklichung. Sie wollen Unabhängigkeit und fordern individuelle Lösungen“, so Obwexer. Solche fehlen aber, etwa in der Mobilität oder beim Wohnen. Für den Transport zur Schule oder in die geschützte Werkstatt ist durch Busse gesorgt. „Jedoch gibt es für alles was die persönliche Lebensgestaltung angeht, etwa den Kinobesuch am Abend oder den Einkauf am Nachmittag noch immer keine Lösungen“, betont Obwexer.
Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Positives und immer wieder Fortschritte und gelungene Beispiele von Arbeitsinklusion oder Wohnprojekten. Viele engagierte Menschen in öffentlichen Diensten und Vereinen bemühen sich hier redlich den Bedürfnissen der Betroffenen entgegenzukommen. Sehr positive Entwicklungen in diesem Jahr gibt es zudem durch das Projekt „Dopo di Noi“, wo es gelungen ist einiges auf den Weg zu bringen. „Die maßgeblichen Schritte sind gesetzt, damit Eltern künftig ihren Kindern mit Behinderung eine finanzielle und betreuerische Absicherung hinterlassen können“, erklärt Obwexer: „Die Gründung der entsprechenden Stiftung ist ein enorm wichtiger Meilenstein.“
Kinder und Jugendliche mit Behinderungen: Barrierefreiheit und Teilhabe fördern
Anlässlich des am 3. Dezember stattfindenden Internationalen Tages der Menschen mit Behinderungen wurden am heutigen Freitag die Ergebnisse eines wissenschaftlichen Projekts zu „Partizipation und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Südtirol“ und daraus resultierende Forderungen vorgestellt. Es handelt sich um ein Gemeinschaftsprojekt des Monitoringausschusses, der Kinder- und Jugendanwaltschaft sowie des Kompetenzzentrums für Inklusion im Bildungsbereich der Freien Universität Bozen.
Erste Ergebnisse, u.a. eine unzureichende barrierefreie Erreichbarkeit und Nutzung von Schulen und Freizeit-Orten, sowie daraus resultierende Forderungen wurden am Freitagvormittag im Palais Widmann in Bozen anlässlich des am 3. Dezember stattfindenden Internationalen Tages der Menschen mit Behinderungen vorgestellt.
Landtagspräsident Josef Noggler hob zum Auftakt der Veranstaltung hervor, dass Projekte wie dieses auch in Zukunft auf allen Ebenen gefördert werden müssten. „Das Ziel muss sein, dass alle Menschen die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben, egal ob in der Schule, im gesellschaftlichen Leben oder später im Erwachsenenalter auf dem Arbeitsmarkt“, so Noggler, der seine Grußworte mit einem Zitat des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker schloss: „Glück empfinden zu können, ist eine Fähigkeit, die Menschen mit und ohne Behinderung verbindet.“
„Wir müssen die Menschen, die Kinder, die Familien fragen, was sie konkret brauchen, wir müssen ihnen zuhören und sie schon frühzeitig in die Planung von Angeboten und Diensten einbeziehen. Denn wir gestalten mit ihnen und für sie. Daher ist dieses Projekt ist ein sehr wichtiges, denn nur wenn wir wissen, was Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in den Bereichen Schule und Freizeit möchten, können wir die entsprechenden Rahmenbedingungen setzen. Ich danke darum dem Südtiroler Monitoringausschuss und der Kinder- und Jugendanwaltschaft für diese tolle Initiative“, betont Waltraud Deeg, Landesrätin für Familie, Senioren, Soziales und Wohnbau.
„Bei den Ergebnissen, die von einer Arbeitsgruppe des Monitoringausschusses, der Kinder- und Jugendanwaltschaft und des Kompetenzzentrums für Inklusion im Bildungsbereich analysiert wurden, haben sich mehrere wichtige Themenbereiche herauskristallisiert, darunter die unzureichende barrierefreie Erreichbarkeit und Nutzung von Schulen und Freizeit-Orten sowie der Eindruck, dass bei Teilhabe sowohl im Schulleben als auch in der Freizeit noch deutliches Verbesserungspotenzial vorhanden ist“, betonten Michela Morandini, Vorsitzende des Südtiroler Monitoringausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, und Kinder- und Jugendanwältin Daniela Höller unisono.
Das wissenschaftliche Projekt setzt sich aus zwei Teilen zusammen, für den ersten Teil wurden Einzelinterviews mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen im Alter von 9 bis 18 Jahren zum Thema Teilhabe und Partizipation in den Bereichen Schule und Freizeit geführt. Die Interviews wurden von Studentinnen des Magisterstudiengangs in Bildungswissenschaften für den Primarbereich an der unibz unter der Koordination von Heidrun Demo, Professorin am Kompetenzzentrum für Inklusion im Bildungsbereich und Fachexpertin im Monitoringausschuss, sowie Anna Frizzarin, Forschungsassistentin am Kompetenzzentrum, geführt.
Der zweite Teil des Wissenschaftsprojekts war ein Online-Fragebogen, der vom Monitoringausschuss unter Supervision von Renate Heissl, Lehrbeauftragte an der Fakultät für Bildungswissenschaften der unibz und Fachexpertin im Monitoringausschuss, ausgearbeitet wurde. Mit diesem wurde die Sichtweise von Familienangehörigen von Betroffenen abgefragt.
Professorin Simone Seitz, Direktorin des Kompetenzzentrums für Inklusion im Bildungsbereich der Freien Universität Bozen, zufolge „werden in der Sozialforschung Kinder und Jugendliche immer noch viel zu selten nach ihren Sichtweisen und Erfahrungen gefragt. Zwar ist man sich auf der theoretischen Ebene einig, dass sie in Bezug auf ihre Lebenswirklichkeiten auskunftsfähige Expert: innen sind, dennoch wird in der Forschung nur zögerlich umgesetzt, was hier realisiert wurde: Die Sichtweisen der Adressat:innen des politischen und beruflichen Handelns im Sozial- und Bildungsbereich erhalten Eingang in das wissenschaftliche Wissen und finden politisches Gehör. Damit steht diese Studie beispielhaft für den Forschungsstil des Kompetenzzentrums, der sich nicht im abgeschlossenen Elfenbeinturm vollzieht, sondern in Kommunikation mit Praxis und Politik und in Orientierung an den Rechten und Belangen von Kindern und Jugendlichen.“
Aus den Anliegen der Kinder und Jugendlichen sowie der Familienangehörigen wurden Schwerpunkte ermittelt, aus denen Forderungen an die Politik sowohl für den Schul- als auch für den Freizeitbereich herausgearbeitet wurden. „Unter den Forderungen im Bereich Schule sind besonders die Gewährleistung eines qualitativen und inklusiven Unterrichts in allen Bildungsstufen und die Förderung von Gelegenheiten zur Information für eine stärkere Sensibilisierung in der Schule zum Thema Inklusion hervorzuheben“, erklärt Monitoringausschuss-Vorsitzende Morandini. „Für den Bereich Freizeit von Bedeutung sind dagegen die Forderung eines kapillaren Ausbaus der Freizeitangebot im ländlichen Gebiet sowie die Forderung in Bezug auf die Förderung von inklusiven und bedürfnisgerechten Angeboten“, ergänzt Kinder und Jugendanwältin Höller.
„Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass es sowohl im Schul- als auch im Freizeitbereich noch einiges zu tun gibt. Inklusion, gerade für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigung, muss gelingen. Die Politik, aber auch die Gesellschaft als Ganzes ist gefragt. Ausgehend vom Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und der UN-Kinderrechtskonvention müssen angemessene Maßnahmen überlegt und dann auch umgesetzt werden, damit alle jungen Menschen ein größtmögliches Ausmaß an Autonomie und Selbstbestimmung erreichen sowie ein würdevolles Leben führen können,“ unterstreicht Kinder- und Jugendanwältin Daniela Höller. „Die nächsten konkreten Schritte bestehen nun darin, die Forderungen an die politischen Verantwortlichen zu stellen“, so die Vorsitzende des Südtiroler Monitoringausschusses Michela Morandini.