Bilanz

Fünf Jahre Corona: Was Südtirol aus der Pandemie lernen kann

Donnerstag, 30. Januar 2025 | 12:00 Uhr

Von: mk

Bozen – Das Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen zieht fünf Jahre nach Ausbruch der Corona-Pandemie Bilanz. „Diese Ausnahmesituation hat aufgezeigt, wo das Gesundheitssystem Schwächen hat, etwa in der Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Krankenhäusern“, betont Institutspräsident Dr. Adolf Engl. Fake News, aber auch widersprüchliche Botschaften der Behörden hätten zudem das Vertrauen der Menschen in Medizin und Politik geschwächt. Jetzt gehe es darum, ein gut vernetztes und bürgernahes Gesundheitswesen für die Zukunft zu schaffen.

Unvorbereitet in die Gesundheitskrise

Im Jänner 2020 blickte Europa mit einem unwirklichen Gefühl in die chinesische Stadt Wuhan: Von dort aus breitete sich das SARS-CoV-2-Virus über den gesamten Erdball aus. Die öffentlichen Gesundheitssysteme der Welt standen der sich anbahnenden Corona-Pandemie mit all ihren klinischen Auswirkungen und sozialen Verwerfungen unvorbereitet gegenüber. „Niemand von uns hätte sich je vorstellen können, mit einer derart extremen Gesundheitskrise konfrontiert zu werden. In Italien fehlte zudem ein aktualisierter Pandemieplan“, erinnert sich Dr. Giuliano Piccoliori, Hausarzt in St. Christina in Gröden und Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen. „Die Coronakrise deckte Schwächen des Gesundheitssystems auf, besonders in der Primärversorgung“, erklärt Dr. Piccoliori. Italiens Allgemeinmedizin habe ihre strukturelle Verwundbarkeit gezeigt, vor allem dort, wo die Zusammenarbeit mit Krankenhäusern schwach entwickelt war, z.B. in der Lombardei. „Zu Beginn der Pandemie lag die Krankenhaus-Einweisungsrate dort bei 60 Prozent, verglichen mit 20 Prozent in der Region Venetien.“ Zwei Jahre später war die Hospitalisierungsrate auf 5 Prozent gesunken. „95 Prozent der Corona-positiven Patientinnen und Patienten wurden von Allgemeinmediziner:innen betreut – oft unterstützt durch spezielle Betreuungseinheiten“, fügt Piccoliori hinzu. Prof. Dr. Christian Wiedermann, Ex-Primar für Innere Medizin und nunmehr Forschungskoordinator des Instituts, erinnert an die Überlastung der Spitäler, vor allem an jene der Notaufnahmen. „Länder mit gut vernetzten Einrichtungen für Primärversorgung, z.B. in Skandinavien, schnitten im internationalen Vergleich besser ab. Sie konnten die Patientenströme effizienter lenken“, erklärt Prof. Wiedermann.

Die Allgemeinmedizin in der Pandemie

„Die Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte war essenziell, um eine flächendeckende, verlässliche und zielgruppenorientierte Information der Bevölkerung zu gewährleisten“, betont Dr. Giuliano Piccoliori. Wegen des allgemeinen Vertrauens, das sie genießen, waren die Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner eine wichtige Quelle für präzise, wissenschaftlich fundierte Informationen. Dadurch konnten den Patientinnen und Patienten Zweifel genommen werden. „Südtirols Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin leisteten einen wichtigen Beitrag zum Gelingen der Impfkampagnen. Widerständen und Misstrauen begegneten sie mit Professionalität und Einfühlungsvermögen“, bekräftigt der Wissenschaftliche Leiter des Instituts.

Die Rolle des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health

Während der Pandemie hat Südtirols Institut für Allgemeinmedizin und Public Health durch umfassende Studien und evidenzbasierte Gesundheitsinformation eine zentrale Rolle gespielt. „Unser Forschungsteam untersuchte im Rahmen verschiedener Studien Infektionshäufigkeiten und die Belastungen des Pflegepersonals, von Bewohner:innen in Seniorenwohnheimen, von Hausärztinnen und Hausärzten, von Lehrkräften sowie von Familien mit Kleinkindern. Vor allem gilt es, unsere Befragungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern zur psychosozialen Belastung während und nach der Gesundheitskrise zu erwähnen“, sagt Dr. Adolf Engl, seines Zeichens Institutspräsident. In Zusammenarbeit mit dem Landesinstitut für Statistik ASTAT wurde zudem ein besseres Verständnis des Impfverhaltens in Südtirol ermöglicht. Neben der Forschungsarbeit widmete sich das Team des Instituts der Öffentlichkeitsarbeit: Sowohl Südtirols Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner als auch die Medien wurden regelmäßig über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und praxisorientierte Handlungsempfehlungen informiert.

War Südtirols Corona-Sonderweg eine Sackgasse?

Die von Südtirols Landesregierung unter Berufung auf die Autonomie vorzeitig beschlossenen Lockerungen der staatlichen Coronamaßnahmen führten im Jänner 2021 zur Rückstufung in die rote Risikozone durch die Regierung in Rom. „Die in Bozen getroffenen Entscheidungen – der Südtiroler Sonderweg – wurden mit einem Anstieg der Infektionszahlen in Verbindung gebracht“, bilanziert Prof. Christian Wiedermann. Es sei deutlich geworden, dass lokale Maßnahmen enger mit den gesamtstaatlichen Vorgaben abgestimmt werden müssen, damit die Balance zwischen dem Schutz der Gesundheit und den wirtschaftlichen Interessen gelingen könne. „Die erneuten Lockdowns haben gezeigt, dass isolierte Entscheidungen in einer globalen Gesundheitskrise kontraproduktiv sein können“, ergänzt Wiedermann.

AHA-Regeln sind auch 2025 noch sinnvoll

Das Kürzel AHA steht für „Abstand halten, Hygienemaßnahmen befolgen, Alltagsmaske tragen“. Diese vor fünf Jahren von den deutschen Gesundheitsbehörden entwickelten Faustregeln zur Corona-Eindämmung haben nichts an ihrer Aktualität eingebüßt. Derzeit wird Südtirol von einer Grippe- und Corona-Welle erfasst: Von rund 6.000 erkrankten Personen wurde berichtet, hauptsächlich Kinder und Jugendliche seien davon betroffen. „Internationale Studien zeigen, dass Hygienemaßnahmen in der Hochphase der Pandemie Infektionen um bis zu 30 Prozent reduziert haben. Die AHA-Regeln sind aber nicht nur bei Corona, sondern auch bei saisonalen Infektionskrankheiten wirksam, denn: Abstand halten, Händewaschen und Masketragen können die Ausbreitung von Erregern effektiv verringern“, so Prof. Wiedermann.

Die Impfung: Wendepunkt der Pandemie

Der weltweite Einsatz von Impfstoffen ab Dezember 2020 war ein Wendepunkt in der Pandemie: Millionen Menschenleben wurden gerettet, zudem konnten die ökonomischen Kosten der Krise deutlich gesenkt werden. „Die Schutzimpfungen waren entscheidend, um schwere Krankheitsverläufe zu verhindern und das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu bewahren“, klärt Prof. Wiedermann auf. „Allein in Italien konnten rund 150.000 Leben durch die Impfungen gerettet werden“, ergänzt er und verweist auf internationale Studien: Sie belegen, dass die Impfungen die Gefahr schwerer Corona-Erkrankungen um bis zu 80% senken. „Auch fünf Jahre nach Ausbruch der Pandemie sind Coronaviren noch präsent. Deshalb empfiehlt sich auch 2025 eine Auffrischungsimpfung – vor allem für Menschen über 60, immungeschwächte Personen und medizinisches Personal“, unterstreicht Wiedermann. Langzeitstudien zeigen, dass Impfungen gegen schwere Verläufe selbst dann wirksam bleiben, wenn der Schutz vor einer Ansteckung abnimmt. „Corona verschwindet nicht spurlos“, warnt der Forschungskoordinator des Instituts. Chronische Entzündungen, Autoimmunerkrankungen und Long COVID mit extremer Erschöpfung, Atemnot und Denkstörungen verdeutlichen die weitreichenden Folgen einer Corona-Infektion.

Impfskepsis und Fake News

Die Pandemie brachte Südtirols Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin an ihre Grenzen. „Bis zu 13-stündige Arbeitstage waren keine Ausnahme. Die Nerven lagen oft blank“, erinnert sich Dr. Giuliano Piccoliori. Stark belastend war der Umgang mit einer kleinen, aber lauten Minderheit von Patientinnen und Patienten, die Maßnahmen wie Maskenpflicht oder soziale Distanzierung ablehnten oder gar die Existenz von Corona bezweifelten. „Wir Hausärztinnen und Hausärzte waren gewiss nicht ausreichend darauf vorbereitet, mit skeptischen Patientinnen und Patienten über Impfstoffe zu sprechen. Es fehlte uns nicht nur an spezifischen Informationen, sondern vor allem an der Fähigkeit, solche Vorbehalte überzeugend zu entkräften“, berichtet Piccoliori. Gerade in der Kommunikation erblickt Prof. Christian Wiedermann einen wichtigen Ansatzpunkt und betont: „Wir müssen künftig in der Lage sein, medizinische Fakten so zu vermitteln, dass sie für die Menschen verständlich und glaubwürdig sind.“ In Südtirol, wo die Zweisprachigkeit zusätzliche kulturelle Herausforderungen mit sich bringt, seien die Allgemeinmediziner und der Sanitätsbetrieb entscheidend, um das Vertrauen in medizinische Maßnahmen zu stärken. „Gefährliche Fake News verbreiten sich schneller als je zuvor. Nur durch eine gezielte, transparente und den Zielgruppen angepasste Kommunikation können wir diesen manipulativen Falschmeldungen mit Entschiedenheit entgegentreten“, betont Wiedermann. Als Beispiel nennt er die WHO-Initiative „Get the Facts“, die weltweit durch klare Botschaften das Vertrauen in Impfungen stärken konnte.

Aus Schwächen werden Chancen

Die Corona-Pandemie hat viele Schwächen im Gesundheitssystem offengelegt – und gleichzeitig Entwicklungen beschleunigt, die vorher undenkbar schienen. „Vor allem die Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Krankenhäusern gilt es in Hinkunft zu verbessern. Zudem benötigt die Bevölkerung klare, leicht verständliche Informationen zu medizinischen Themen“, sagt Dr. Adolf Engl, Präsident des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen. Die Corona-Krise berge in der Nachbetrachtung durchaus Chancen in sich, zeigt sich Dr. Giuliano Piccoliori zuversichtlich: „Die Pandemie hat uns gezwungen, schneller zu handeln – vornehmlich in der Forschung und der Anwendung neuer Technologien. Die rasche Entwicklung der mRNA-Impfstoffe war bahnbrechend. Diese Technologie hat Millionen Leben gerettet und eröffnet nun auch neue Möglichkeiten, etwa in der Krebstherapie.“ Auch andere Fortschritte seien bemerkenswert, betont Piccoliori: „Die Einführung elektronischer Gesundheitsakten, digitaler Rezepte und die zunehmende Nutzung von Telemedizin haben unser Gesundheitssystem positiv verändert.“ Zudem beginne künstliche Intelligenz, eine immer größere Rolle in Diagnose- und Behandlungsprozessen zu spielen. Doch nicht alle Entwicklungen stimmen optimistisch. „Der Hausarztberuf in Südtirol ist weniger attraktiv geworden“, warnt Dr. Adolf Engl. „Kolleginnen und Kollegen gehen früher in Rente und der Nachwuchs bleibt aus. Junge Medizinerinnen und Mediziner zieht es vielfach ins Ausland, wo die Arbeitsbedingungen besser sind.“ Dr. Engl sieht aber klare Ansätze, um gegenzusteuern: „Die Verbesserung der Digitalisierung und eine engere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren im Südtiroler Gesundheitssystem sind von großer Bedeutung. Zugleich müssen wir dafür sorgen, dass der Beruf der Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin attraktiver wird – zum Beispiel durch verbesserte Rahmenbedingungen und mittels einer gezielten Nachwuchsförderung“, bekräftigt Dr. Engl.

Das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen

Die Pandemie hat bewiesen, wie wichtig das Vertrauen in Medizin und Politik ist. Jetzt gehe es darum, diese Lehren für die Zukunft zu nutzen und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen – so das Credo des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen. „Die Belastbarkeit und Widerstandsfähigkeit des öffentlichen Gesundheitswesens müssen dringend gestärkt werden“, betont Prof. Christian Wiedermann. Dazu seien Investitionen in digitale Infrastruktur, eine bessere Vernetzung von Gesundheitsbehörden und mehr Präventionsmaßnahmen vonnöten. Sehr wichtig sei es überdies, die Bürger:innen dort abzuholen, wo sie stehen. „Einfach zugängliche Angebote und die persönliche Beratung durch Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin schaffen Vertrauen – und sie wirken lange nach“, erklärt Prof. Wiedermann. „Widersprüchliche Informationen und mangelnde Transparenz haben während der Pandemie viel Vertrauen zerstört“, so Dr. Adolf Engl. Um dies wieder aufzubauen, brauche es nicht nur klare Kommunikation, sondern auch eine ehrliche Fehlerkultur. „Wenn die Menschen sehen, dass Kritik angenommen wird und Maßnahmen verbessert werden, gewinnen sie Vertrauen in Medizin und Gesundheitspolitik zurück“, ist sich Engl sicher. Die Pandemie hat laut Engl auch aufgezeigt, wie sehr soziale Ungleichheiten die Gesundheit beeinflussen. „Menschen mit geringem Einkommen, beengtem Wohnraum oder ungesundem Lebensstil hatten ein höheres Risiko für schwere Krankheitsverläufe“, erläutert Dr. Engl. Daraus ergebe sich ein klarer Auftrag für die Zukunft: „Präventionsprogramme müssen soziale und kulturelle Unterschiede stärker berücksichtigen. Zudem sollte die Gesundheitskompetenz der Bürger:innen gezielt gefördert werden. Ein vernetztes, sozial gerechtes und krisenfestes Sanitätswesen würde nicht nur künftigen Herausforderungen besser standhalten, sondern auch die Lebensqualität vieler Menschen in unserem Land langfristig verbessern“, schließt Institutspräsident Dr. Engl.

Bezirk: Bozen

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