Von: mk
Bozen/Ahrntal – Es war auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches dabei, als der Ahrntaler Hermann Oberlechner bei einer seiner Bergtouren auf einen Tierkadaver stieß. Die gut erhaltene Gämse war auf über 3.000 Metern verendet. Doch wie man mittlerweile weiß, hat der Gletscher im Ahrntal das Tier mehr als 400 Jahre lang konserviert und durch das voranschreitende Schmelzen jetzt freigegeben. Oberlechner hatte aufgrund der besonderen Beschaffenheit der Haut des Tieres erkannt, dass es kein gewöhnliches von alleine verendetes Fallwild sein konnte und den Fund dem zuständigen Jagdaufseher gemeldet. Die Abteilung für Denkmalpflege entschied sodann, das mumifizierte Tier Eurac Research zu übergeben, um es der Forschung zugänglich zu machen. Für die Mumienforscher ist die Gämse ein ausgezeichnetes Modell, das wichtige Erkenntnisse für die Konservierung von Gletschermumien auf der ganzen Welt liefern kann; auch ihre Techniken, antike DNA möglichst ohne Verluste zu erforschen, können die Wissenschaftler an der Tiermumie weiterentwickeln.
In Mumienproben ist die DNA oft beschädigt und nur in kleinsten Mengen vorhanden. So ist bei einem Neufund die wichtigste Frage für die Experten, wie man die Mumie am besten untersuchen und konservieren kann, ohne die antike DNA zu zerstören. Denn jeder Eingriff bedeutet unumkehrbare Folgen. Mit neuen Techniken zu experimentieren ist bei menschlichen Mumien deshalb äußerst schwierig. Eine Tiermumie hingegen eignet sich sehr gut dafür – noch dazu, wenn sie nahezu gleichen Bedingungen ausgesetzt war wie menschliche Gletschermumien, zum Beispiel Ötzi oder Juanita, die vollständig eingefrorene knapp 600 Jahre alte Mumie eines Inkamädchens in den Anden. „Durch unsere Studien kennen wir aus mikrobiologischer Sicht die optimalen physischen und chemischen Bedingungen, um solche Funde zu konservieren. Im Labor stellen wir für die neu gefundene Gämse zunächst diese Bedingungen her, um uns dann auf die DNA zu konzentrieren. Mit vertiefenden Analysen untersuchen wir dann, wie sich verschiedene Konservierungsbedingungen auf die DNA auswirken“, erklärt Marco Samadelli, Konservierungsexperte von Eurac Research. „Unser Ziel ist es, aufbauend auf diesen wissenschaftlichen Daten ein Konservierungsprotokoll auszuarbeiten, das für Gletschermumien weltweit gelten kann. Es ist das erste Mal, dass eine Tiermumie für solche Studien verwendet wird“, schließt Albert Zink, der Leiter des Instituts für Mumienforschung von Eurac Research.
Für Hermann Oberlechner, der die Gämse im September 2019 bei einer Bergtour im Ahrntal zufällig fand, bestand bei näherem Hinsehen kein Zweifel mehr darüber, dass es ein besonderer Fund war: „Das halbe Tier schaute aus dem Schnee heraus. Die Haut war überall wie Leder, ohne Haare. Das habe ich vorher noch nie gesehen. Ich habe sofort ein Foto gemacht und es dem zuständigen Jagdaufseher geschickt. Wir haben dann die Abteilung für Denkmalpflege informiert.“ Der Fundort auf 3.200 Metern Meereshöhe ist sehr abgelegen und nur in einem sechsstündigen Fußmarsch zu erreichen. Nach einem Lokalaugenschein, der auch den Forschern von Eurac Research einiges abverlangte, entschieden sie, für den Abtransport des Tieres das Gebirgstruppenkommando der Alpini um Unterstützung zu bitten. „Die Anfrage von Eurac Research kam gerade während einer Ausbildungsphase unseres militärischen Bergrettungsteams. Wir führen regelmäßige Übungen durch, um zum Schutz unseres Personals bei Einsätzen in der Höhe rasch eingreifen zu können, aber auch, wenn es für den Zivilschutzes notwendig ist“, erzählt Mario Bisica, der Leiter des Büros für öffentliche Information und Kommunikation.
Die Alpini-Truppen organisierten den Transport mittels Hubschrauber gemeinsam mit der Fliegertruppe des italienischen Heeres. Mit dieser Unterstützung konnten die Experten von Eurac Research die Tiermumie aus dem Gletscher befreien und in einer von Samadelli eigens nach Maß angefertigten Box abtransportieren. Das Tier befindet sich jetzt in einer Kühlzelle bei minus fünf Grad Celsius im Labor für Konservierungstechnik von Eurac Research auf dem Areal des NOI Techpark, wo man bald mit den Analysen beginnen wird.
Mit dem Abschmelzen der Gletscher kommt es immer häufiger zu derartigen Funden. Vor dem Abtransport in der vergangenen Woche war die Gämsen-Mumie von Neuschnee und einer dicken Eisschicht bedeckt, aus der sie unter der Aufsicht der Anthropologin Alice Paladin von Eurac Research mit verschiedenen archäologischen Ausgrabungsinstrumenten befreit wurde. So konnte die Tiermumie dank größter Präzisionsarbeit und der Zusammenarbeit aller Beteiligten ohne Beschädigung nach Bozen abtransportiert werden.