Pizzetta für 280 Euro

“Herr Kompatscher, Sie verlieren uns”

Freitag, 12. März 2021 | 16:22 Uhr

Von: luk

Bozen – In einem offenen Brief an Landeshauptmann Arno Kompatscher und den Bozner Bürgermeister Renzo Caramaschi beschreiben die beiden Südtirolerinnen Barbara Unterhofer und Sadbhavana Pfaffstaller eine Szene, die sich kürzlich in ihrem Leben ereignet hat, und fragen abschließend nach der Sinnhaftigkeit gewisser Regelungen.

Grundsätzlich würden sie die Corona-Maßnahmen mittragen, um so schnell wie möglich zu einem normalen Leben zurückkehren zu können, erklären die beiden Freundinnen. “Das Einzige, was wir uns derzeit ‘leisten’, ist, einmal in der Woche miteinander eine Kleinigkeit im Freien zu essen.” Dabei würden sie auf einer Parkbank viel Platz zwischen sich lassen und somit dem Virus keine Chance lassen.

Kürzlich seien sie jedoch von der Stadtpolizei bestraft worden, mit der Aufforderung in einen geschlossenen Raum zu gehen. Das hätten sie dann auch getan, obwohl bekannt ist, dass sich der Virus in Innenräumen leichter übertragen lässt. Abschließend meinen die beiden jungen Südtirolerinnen: “Herr Kompatscher, Sie verlieren uns. Und das will heißen, Sie verlieren diejenigen, die ‘mitmachen und die Sache ernst nehmen.'”

Nachfolgend der offene Brief in voller Länge:

 

++Eine Pizzetta für 280€ – Offener Brief an Arno Kompatscher, zur Kenntnis an den Bürgermeister von Bozen Renzo Caramaschi++

Lieber Herr Kompatscher,

wir sind zwei junge Südtiroler Bürgerinnen, die auch in Corona-Zeiten und unter strenger Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen tagtäglich in die Landeshauptstadt pendeln, um zur Arbeit zu gehen. Mit Schrecken verfolgen wir das Geschehen in den Krankenhäusern, bisher zum Glück immer aus der Ferne. Seit Monaten sind unsere Kontakte eingeschränkt. Wir tragen Maske, halten Abstand, wissen schon lange nicht mehr, wie sich eine Umarmung anfühlt. Wir nehmen es hin, weil wir die Maßnahmen einsehen und, wie alle, auch irgendwann aus diesem Notstand rauswollen. Das geht nur, wenn alle an einem Strang ziehen, wie Sie uns seit Monaten immer wieder eindringlich erklären.

Wenn die 6-jährige Nichte zum ersten Mal sagt, dass man sich wegen Corona nicht mehr küssen darf, bleibt einem die Luft weg. Aber wissen Sie was? Man gewöhnt sich dran und mittlerweile bricht diese Aussage einem nur noch ein bisschen das Herz.

Expertinnen im körperlosen Begrüßen und Verabschieden sind wir mittlerweile ohnehin alle, kein Küsschen links und rechts, keine Umarmung, keine Berührung. Das 18. Jahrhundert wäre stolz auf unsere formvollendeten Knickse und die dadurch manchmal peinlichen anmutenden Abschiede.

Begegnen wir Menschen auf dem Gehweg, so weichen wir aus: Meistens auf die Fahrbahn. Mal sehen, wie lange wir das noch unversehrt überstehen.

Unser privates Sozialleben wurde auf ein Minimum beschränkt. Wir pendeln zwischen Haus und Arbeitsstätte in überfüllten Zügen hin und her. Das war es. Feiern, die besonders für junge Menschen wichtig sind, gibt es nun keine mehr, keinen Brunch, keinen Aperitif.

Wir murren nicht. Wir klagen nicht, denn wir haben große Hoffnung in die Impfung und großen Respekt vor dem, was Ärztinnen und Ärzte sowie das Pflegepersonal zurzeit leisten. Die AHA-Regeln finden wir sinnvoll, wenn wir auch die Hoffnung haben, dass wir sie irgendwann wieder vergessen können. Nebenbei erwähnt haben wir auch großen Respekt vor Ihrer Arbeit. Wir beneiden Sie um Ihre Verantwortung kein bisschen.

Unser Wochenablauf sieht derzeit wie folgt aus: Arbeiten. Zugfahren. Zu-Hause-Bleiben. Doch aufs Essen können wir nicht verzichten. Seit Monaten schlagen wir uns mit einem Mix aus Vorgekochtem, Imbisstand-Fast-Food und belegten Brötchen durch. Doch eine gesunde Mittagspause – und dazu gehört nicht nur gesundes Essen – und das Abschalten von der Arbeit sind fundamental für die Psyche einer jeden Person.

Das Einzige, was wir uns derzeit „leisten“, ist, einmal in der Woche miteinander eine Kleinigkeit im Freien zu essen. Beide heißen wir mit zweitem Vornamen „Vernünftig“: Wir setzen uns ans gegenüberliegende Ende einer Bank und witzeln noch über den berühmten „Babyelefanten“, der unbedingt zwischen uns Platz haben muss.

Es ist für uns beide seit Monaten der soziale Höhepunkt unserer Woche (!). Wir zehren lange davon und freuen uns genauso lange darauf. Nebenbei gesagt sind wir beide nicht ganz so allein: Halb Bozen isst, wie Sie sicherlich wissen, im Freien. Ob auf den Talferwiesen oder auf dem Waltherplatz, es wird sich getroffen und meistens in vernünftigem Abstand zueinander gegessen. Weil der Mensch das braucht.

Doch gestern, am 11. 03., hielt eine Streife der Gemeindepolizei vor „unserer“ Bank. Aus der Ferne wurden wir ungefragt fotografiert, es folgte die Belehrung, dass man im Freien nicht essen dürfe – weder allein noch mit anderen – gefolgt von der Ausstellung einer Verwaltungsstrafe: 280€. Pro Kopf.

Nun sind wir beide im Großen und Ganzen grundsätzlich Fans von Regeln. Doch wir möchten den Sinn der Regeln auch gerne verstehen. Herr Kompatscher, bitte erklären Sie uns, wieso wir dem Coronavirus Vorschub leisten, wenn wir unsere Pizzetta im Freien essen? Denn uns wurde auch gesagt, wir sollen „in einen geschlossenen Raum gehen“. Will heißen, dass es besser ist, wenn wir unser Mittagessen im Büro zu uns nehmen? Zu zweit in einem engen Raum? (Nebenbei gesagt haben wir das dann auch genauso gemacht. Dem Virus haben wir so nicht gerade ein Schnippchen geschlagen, aber hey: Regel ist Regel, oder nicht?)

Herr Kompatscher, Sie verlieren uns. Und das will heißen, Sie verlieren diejenigen, die „mitmachen und die Sache ernst nehmen“; diejenigen, die nicht aus Reflex heraus und aus Prinzip einen auf renitent und rebellisch machen. Diejenigen, die Masken mit Überzeugung tragen und sich zusammenreißen, und ihre Lieben aus Liebe nicht umarmen und nicht berühren. Diejenigen, die sich aus Rücksicht vor anderen extra im Freien treffen, mit Abstand ihr Mittagessen einnehmen, ein paar Worte austauschen und dadurch wieder die Kraft bekommen, den Karren für ein paar Tage weiterzuziehen. Sie verlieren uns, weil Sie uns aus Prinzip etwas nehmen, mit dem wir niemandem schaden. Wir möchten Sie bitten: Lassen Sie uns das Bisschen Zwischenmenschlichkeit, das uns noch geblieben ist. Nehmen Sie uns nicht alles. Wir verzichten auf vieles, aber so halten wir das nicht mehr aus. Die gestrige Situation war die traurige Krönung der Erfahrungen, die wir im vergangenen Jahr machen mussten.

Die richtige Balance zwischen physischer bzw. psychischer Gesundheit und Freiheit ist ein Seiltanz– das ist uns bewusst. Aber bitte schneiden Sie das Seil nicht komplett durch. Es ist alles, was uns derzeit bleibt.

Barbara Unterhofer und Sadbhavana Pfaffstaller

Bezirk: Bozen