Von: mk
Bozen – Vor dem Risiko, zur Strafverfolgung an ein fremdes Land ausgeliefert zu werden, ist kein italienischer Staatsbürger gefeit – und damit auch kein Südtiroler. Dies gilt auch, falls die Tat in Italien begangen wurde. Für eine Frau aus Verona hat der Justizminister nun in letzter Minute die Auslieferung an Brasilien gestoppt. „Wenn Italien mit dem antragstellenden Staat ein Abkommen hat, muss der Richter gar nicht prüfen, ob schwerwiegende Schuldindizien vorliegen“, erklärt Rechtsanwalt Nicola Canestrini gegenüber dem Tagblatt Dolomiten.
Der aufsehenerregende Fall sorgt seit Tagen für Schlagzeilen. Ein Paar aus Italien war von seinem ehemaligen brasilianischen Kindermädchen in dessen Heimat wegen Misshandlungen angezeigt worden.
„Grundsätzlich gilt zwar das Prinzip, dass jeder Staat die Vergehen innerhalb seiner Grenzen selbst strafrechtlich verfolgt“, erklärt der frühere Leitende Staatsanwalt von Bozen und Generalstaatsanwalt in Campobasso, Guido Rispoli. Allerdings ist auch jeder Staat bestrebt, Personen, die im Verdacht stehen, einem seiner Bürger Unrecht angetan zu haben, selbst zu bestrafen.
Auslieferungsantrag ab einem Jahr Haft möglich
Zwischen Italien und Brasilien gibt es seit 1989 ein bilaterales Abkommen, das Auslieferungen regelt. Demnach kann das Heimatland des mutmaßlichen Opfers bei Straftaten mit einem Strafmaß von einem Jahr aufwärts für den Tatverdächtigen einen Auslieferungsantrag stellen.
Insgesamt hat Italien mit 66 Staaten weltweit solche Abkommen abgeschlossen. Gemeinsam mit 48 Staaten hat Italien außerdem im Jahr 1957 in Paris das Europäische Auslieferungsübereinkommen unterzeichnet.
„Die so genannte prozessuelle Auslieferung dient dazu, den Verdächtigen im Land, das den Antrag gestellt hat, vor Gericht zu stellen“, erklärt Canestrini gegenüber den „Dolomiten“. Er hält im Bereich des internationalen Strafrechts Vorlesungen unter anderem an der Uni in Trient und hat schon viele solcher Fälle betreut. 2010 hatte er am Bozner Oberlandesgericht erwirkt, dass eine 29- Jährige in Südtirol bleiben durfte und nicht an Kiew ausgeliefert wurde. Das Gericht kam zum Schluss, es gebe keine Garantie dafür, dass in der Ukraine die Menschenrechte der Frau gewahrt würden.
Ob einem Auslieferungsantrag stattgegeben wird, darüber entscheidet das zuständige Oberlandesgericht. Im Fall des Ehepaars aus Verona handelte es sich dabei um Venedig. Dieses befand vorerst zumindest im Fall der Frau, dass Brasiliens Antrag stattgeben werden soll. Auch das Kassationsgericht bestätigte die Marschrichtung.
„Wenn mit dem antragstellenden Staat ein Abkommen besteht, muss das Oberlandesgericht gar nicht prüfen, ob schwerwiegende Schuldindizien vorliegen. Dies ist nur vorgesehen, wenn es kein Abkommen gibt oder das Abkommen diese Überprüfung vorschreibt“, erklärt Canestrini gegenüber den „Dolomiten“.
Denn prinzipiell kann jedes Land die Auslieferung einer tatverdächtigen Person, die sich auf einem anderen Staatsgebiet aufhält, beantragen, obwohl es bestimmte Einschränkungen gibt, die die italienische Strafprozessordnung, die Menschenrechte und die einzelnen Abkommen selbst vorsehen.
Justizminister zieht Notbremse
Vor der Auslieferung bewahrt wurde die Frau nun von Justizminister Andrea Orlando, der sich dagegen ausgesprochen hat. Im Fall des Mannes steht die gerichtliche Entscheidung noch aus. „Bei Auslieferungsanträgen sind immer rechtliche und politische Aspekte im Spiel, und der Minister hat entsprechenden Ermessensspielraum“, erklärt Canestrini gegenüber den „Dolomiten“.
Die bilateralen Abkommen würden sicherstellen, dass in der grenzenlosen Strafverfolgung keine Schlupflöcher bleiben, fügt Rispoli laut „Dolomiten“ hinzu.
Die Rechtslage könnte aber auch zum Bumerang werden. Sollte eine Person vortäuschen, Opfer einer Straftat geworden zu sein, könnte auch ein Unschuldiger ausgeliefert werden, weil der Sachverhalt selbst vom Gericht nicht mehr überprüft werden muss.