Von: mk
Bozen – In der jüngsten Vergangenheit haben mehrere Vorfälle von Jugendgewalt für Schlagzeilen gesorgt. Jugendliche werden von anderen Jugendlichen verprügelt, in manchen Fällen handelt es sich um regelrechte Babygangs. Die Gewalt wird gefilmt, anschließend landen die Videos im Internet. Die Täter sind in vielen Fällen minderjährig und nicht strafmündig. In Meran wurde deshalb ein Arbeitstisch eingerichtet, auch in anderen Ortschaften kam es zu Treffen zwischen Vertretern von Jugendgruppen, Sozialdiensten, der Präfektur und der Gemeinde. Die italienische Tageszeitung Alto Adige hat unterdessen den Brief eines Opfers veröffentlicht, der zum Nachdenken anregt.
Ein Universitätsstudent ist im Regionalzug von Trient nach Bozen von einer Gruppe Jugendlicher angegriffen worden. Jüngstes Mitglied der Gang war 14 Jahre alt. Als Psychologiestudent wolle er nicht über die Jugendlichen urteilen, allerdings stelle er sich Fragen über ihr Verhalten, heißt es in dem Brief, der auch an die Familien der Jugendlichen adressiert wurde.
„An diesem Abend konnte ich einen kleinen Teil von dem spüren, was ihr möglicherweise zu Hause, in der Schule, auf dem Fußballfeld mit euren Freunden oder einfach auf der Straße erlebt. Ihr habt eine Machtlosigkeit, eine Impotenz angesichts eines Ereignisses gefühlt, wie ich sie gefühlt habe, als ihr mich zu fünft umzingelt habt“, schreibt der Student.
Im selben Atemzug fährt er fort: „Ihr habt Einsamkeit gefühlt, dieselbe die ihr mich fühlen lassen habt, als ihr in einem Wagon auf mich losgegangen seid, in dem ich der einzige Passagier war – abgesehen von euch.“ Die Jugendlichen hätten den Kontrollverlust über sich selbst gespürt und gehofft, dass auch er seine Selbstbeherrschung angesichts der anhaltenden Belästigungen verlieren würde, schreibt der Student. „Ihr habt das Gefühl erlebt, in einem Käfig eingesperrt zu sein – dasselbe Gefühl, das ihr auch mir gegeben habt, als ihr euch mir in den Weg gestellt habt“, so der Student.
Seine Angreifer hätten Wut gefühlt – dieselbe, die er gefühlt habe angesichts solcher Arroganz. „Ihr habt Unsicherheit gefühlt, wie ich sie gefühlt habe, als er mir wiederholt eingeredet habt, wie sehr ich Angst hätte und dass ich allein auf mich gestellt sei“, so der Student.
Seine Angreifer hätten „falschen Mut“ verspürt, und zwar deshalb, weil nichts Mutiges darin liege, zu fünft auf einen einzelnen loszugehen. „Im Gegenteil: So habt ihr bewiesen, wie viel Einsamkeit und Unsicherheit in euch steckt, denn ich bin mir ziemlich sicher: Allein hättet ihr euch das nicht getraut. Nur in der Gruppe seid ihr stark“, erklärt der Student weiter.
Gleichzeitig erinnert er die Jugendlichen daran, dass sie in Momenten der Not von denjenigen Personen im Stich gelassen würden, die sie für Freunde hielten. „Wählt gut eure Freundschaften aus, denn ein Großteil des Lebens einer Person wird von jenen definiert, die euch zur Seite stehen.“ Mit dem Alkohol, den Jugendlichen auch noch im Zug getrunken hätten, würden sie sich selbst und mit ihrem Verhalten anderen schaden.
„Der Alkohol gibt euch Mut und senkt die Hemmschwelle, um solche Taten zu vollbringen, doch die Wirkung hält nicht an. Bald wird alles wieder wie vorher – vermutlich mit den Folgeerscheinungen des Rausches – und deshalb frage ich euch: Zahlt sich das wirklich aus?“, schreibt der Student weiter. Vielleicht hätten sich seine Peiniger nie diese Frage gestellt, doch er wolle nicht aufgeben. „An diesem Abend habe ich nur ein paar sehr verwirrte, verlorene und unsichere Jugendliche gesehen. In euren Augen habe ich den Hilferuf gesehen, den ihr hinter einem Panzer versteckt, um vor euren vermeintlichen ‚Freundinnen‘ nicht schwach zu wirken“, erklärt der Student. Es gebe allerdings keine Schwäche in Personen, Sensibilität sei nichts Schlechtes.
„Angesichts eures jungen Alters habe ich immer noch Vertrauen, das ein Großteil von euch auf den rechten Weg zurückfindet. Es ist niemals zu spät. Damit will ich nicht kleinreden, was ihr gemacht habt. Ich halte eure Handlungen immer noch für feige und gemein, doch ich verzeihe euch. Ich habe euch bereits verziehen, als ich aus dem Zug gestiegen bin und ich würde es auch wieder tun, denn der Weg des Verurteilens ist ein Weg, den ich nicht einschlagen möchte“, schreibt der Student abschließend.