Ein Rückblick auf die herausragende Arbeit der Psychologischen Dienste Südtirols und auf das was bleibt

Nach drei Jahren Coronakrise – PSYHELP aufgelöst

Samstag, 29. April 2023 | 10:57 Uhr

Von: sis

Südtirol – Die Einsatzleitung zur psychischen Bewältigung der Covid-Krise PSYHELP wird aufgelöst. In einem Rückblick hat die Einsatzleitung PSYHELP präventive Elemente und Lerneffekte aus der Krise zusammengefasst. Die Website besteht weiter und ist eine kostbare Fortsetzung der Bemühungen der Initiative.

Dass rasches Handeln unbedingt notwendig war, um die gesamte Bevölkerung Südtirols in der Coronakrise psychisch zu stützen, war den Koordinator*innen des Netzwerks Psychischer Gesundheit sofort klar. Deshalb wurde am 5. März 2020 zusammen mit der Präsidentin der Psychologenkammer die psychische Einsatzleitung PSYHELP gegründet. Sie umfasste ein Netzwerk von 35 Organisationen, von denen 15 der öffentlichen Hand angehörten. Nach drei Jahren konstanter Tätigkeit sind die Wogen fast geglättet, und PSYHELP wird offiziell aufgelöst.
Die Anzahl an Patient*innen bei allen Psychodiensten des Landes hat in dieser Zeit um 20 bis 30 Prozent zugenommen. Besonders dramatisch hat sich dies bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen gezeigt. Suizidale Krisen treten deutlich häufiger auf, und der Beginn von Essstörungen erfolgt früher. Vor allem aber hat die Südtiroler Bevölkerung flächendeckend eines aus der Coronakrise gelernt: Sie sucht rascher und gezielter Hilfe bei psychosozialen Beschwerden. Es ist keine Schande mehr, auch seelisch zu leiden. Es besteht inzwischen Vertrauen darin, dass Expert*innen gut helfen können. Dass schwere Krisen überwunden und psychische Störungen geheilt werden können. Dass Isolation und Orientierungsarmut beseitigt werden können. Am besten immer wieder gemeinsam, in neu zu bildenden Gruppen. Dieser Lerneffekt gelingt auch deshalb, weil die öffentlichen Psychodienste inzwischen so gut vernetzt und aufgestellt sind, dass sie die Zunahme an Bedürfnissen und Patient*innen aushalten. Besonders hilfreich dafür war die Genehmigung von 40 Psychologenstellen im öffentlichen Dienst noch 2019. Damals konnte niemand ahnen, wie dringend all diese neuen Mitarbeiter*innen ein halbes Jahr später gebraucht würden. Diese neu geschaffenen Stellen konnten während der Coronakrise laufend besetzen und nach dem größten Bedarf umschichten werden.

Vor allem aber hat man sich bemüht, sich den verheerenden Umständen der Krise anzupassen. Das helfende Sozialleben sei auf den Kopf gestellt und das Gesundheitswesen als krank machend erlebt worden. Ganz plötzlich wollten Patient*innen keinen persönlichen Kontakt mehr, sie wollten sich nicht anstecken. Das beraubte die Psychiatrie und Psychologie ihres wichtigsten Hilfsmittels: der stützenden Begegnung, der erlebten tragfähigen Beziehung.
Expert*innen mussten schlagartig virtueller vorgehen und doch den Betreuten möglichst nahekommen. Man hat allen Mitarbeiter*innen direkte Patientenbetreuung durchs Telefon vorgegeben. Nicht Sekretariatspersonal, sondern behandelnde Psychiater*innen oder betreuende Psycholog*innen selbst sollten all ihre Patient*innen anrufen. Das war Schwerstarbeit: Waren die Expert*innen vorher für Patient*innen schwer erreichbar gewesen, so war es nun umgekehrt der Fall gewesen. Patient*innen konnten nur schwer kontaktiert und behandelt werden. Den Expert*innen war es nur mühsam möglich auf Entfernung Diagnosen zu stellen und Therapien zu beginnen oder zu verändern. Während des Lockdowns wurden tausende Rezepte über WhatsApp und E-Mail versandt – Videotherapien wurden begonnen, wenn möglich.

Die Notfallpsycholog*innen haben mit freiwilligem Einsatz ein Psychologisches Krisentelefon 24 Stunden ins Leben gerufen, das von Anfang März 2020 bis 1.1.2022 aktiv war. Es war so wertvoll und wichtig, dass es in Kürze verbessert, erweitert und mit viel breiteren Aufgaben versehen wieder anlaufen soll. Es wurde eine Liste hilfreicher Adressen für Notfälle – 112, psychiatrischer Bereitschaftsdienst, Krisentelefon, eigene Krisennummer für Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Einsatzkräfte – erstellt. Diese wurde ergänzt um eine Liste für häufige klinische Situationen – Depressionen, Angststörungen, Suchtverhalten, Essstörungen – und für niederschwellige Anliegen – Familienkonflikte, Männerberatung, Frauenhäuser. Außerdem wurde die Website www.dubistnichallein.it in nur 3 Wochen betriebsfertig gemacht. Sie registrierte im ersten Verwendungsjahr 1000 Zugriffe pro Woche. „Dubistnichtallein“ geht von schwierigen Gefühlen aus, bietet dazu drei bis vier hilfreiche Verhaltensweisen an, und zusätzlich die Erreichbarkeit der Anlaufstellen, wenn die Ratschläge allein nicht reichen sollten. Fachleute von PSYHELP haben die Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen regelmäßig betreut und begleitet. Parallel dazu haben sie der Bevölkerung hilfreiche Ratschläge des Umgangs mit der Krise erteilt, im Besonderen über das Radio für ältere Menschen und über die klassischen Medien für alle aggressiven oder selbstaggressiven Menschen aller sozialen Schichten. Auch in sozialen Netzwerken war PSYHELP präsent. Gedacht wurde vor allem an verunsicherte, erschütterte Jugendliche. Psychologische Dienste wurden als breite Erstanlaufstelle über das Krisentelefon ausgebaut. Zudem wurde vereinbart, dass Patient*innen von dort bei Überlastung rasch an Psychologen anderer Einrichtungen weitergeleitet werden sollen. Diese Hilfsaktion nannte sich PSYPAKT und wurde dann aktiviert, wenn die Belastung der Psychologischen Dienste zu groß zu werden drohte. All das erforderte engste Netzwerkarbeit.

In der Krise nahmen Depressionen schlagartig zu. PSYHELP arbeitete deshalb intensiv mit der Europäischen Allianz gegen Depression zusammen, als Sponsor fungierte Rotary. Dadurch gelang es auch in der Krisenzeit, den Ersten Oktober als Europäischen Tag der Depression zu begehen. Es wurden in diesem Zuge an die 8.000 Broschüren zum Thema „Depression-was tun?“ und ungefähr 12.000 Notfallkärtchen mit hilfreichen Telefonnummern gezielt an allen Spitälern und Bildungshäusern Südtirols verteilt. Auf der Bozner Messe konnte 2022 erstmals ein Stand des Netzwerks PSYHELP errichtet werden, der Resilienz und work-life-balance zum Inhalt hatte. Auch die Kontakte mit dem Forum Prävention., das seit 2021 vom Südtiroler Gesundheitsbetrieb finanziert wird, sind intensiviert worden. Gemeinsam wurden Podcasts und Videos mit hilfreichen Inhalten produziert. Alle Dienste des Netzwerks psychischer Gesundheit haben 2022 einen internen Bereitschaftsdienst während ihrer Öffnungszeiten entwickelt, der in Kürze auch mit Bereitschaftstelefonen ausgestattet wird. Die Wege für Betroffene in Not sollen dadurch kürzer werden, die Hilfe gezielter und rascher.

Auf die Zunahme der Essstörungen in immer jüngerem Alter wurde mit einem Entwurf reagiert, den die Landesregierung dieser Tage beschlossen hat: Das Zugangsalter zum spezialisierten Zentrum Villa Eea in Bozen ist auf 12 Jahre herabgesetzt worden, auch das notwendige Minimalgewicht wird erniedrigt, die Zuweisung wird allen Fachärzten ermöglicht. Um die Scheu junger Leute vor der Kontaktaufnahme mit Psycho-Diensten abzubauen, soll eine Psy-App für Südtirol entwickelt werden. Über diese soll in Zukunft eine Zuweisung an den geeignetsten Dienst für die jeweiligen Beschwerden der einzelnen Betroffenen erfolgen.

PSYHELP hat auch verschiedene wissenschaftliche Studien zur Coronakrise (Copsy, Negrar, Cosmo) mitgestaltet und relevante Erkenntnisse gerade zur Häufigkeit von Depressionen bei und nach Corona mitverbreitet. Knapp nach Ende des ersten Lockdowns ereignete sich Anfang Juni 2020 in Südtirol die höchste Suizidhäufung seit Beginn der Aufzeichnungen. PSYHELP hat augenblicklich mit so genannten „Ermöglichungsgeschichten“ reagiert. Das sind Berichte von Menschen, die suizidale Krisen gut überstanden haben. Die erzählen, wie und mit wessen Hilfe sie das geschafft haben. Wenn diese Geschichten zusammen mit Interviews veröffentlicht werden, in denen Experten die Heilbarkeit psychischer Störungen schildern, und wenn eine Liste von Anlaufstellen dazu kommt, entsteht ein Schutzeffekt vor weiteren Suiziden. Das ist inzwischen wissenschaftlich festgestellt worden. All das hat PSYHELP innerhalb weniger Tage ermöglicht. Parktisch alle Medien Südtirols haben dabei eine unterstützende Rolle gespielt. Nach einer Woche sank die Suizidhäufigkeit auf den jährlichen Durchschnitt zurück.

Rückblickend war die Krise auch ein großes Lernfeld, in dem es die Südtiroler Bevölkerung verstanden hat, besser auf das eigene psychische Gleichgewicht zu achten. Und auch wenn Fachkräfte eher erschöpft daraus hervorgehen, eines hat sich auf jeden Fall drei Jahre lang gezeigt: ihre Nützlichkeit.