Von: mk
Bozen – In Südtirol haben 4810 Menschen eine seltene Krankheit. Der Dachverband für Soziales und Gesundheit erinnert an die Anliegen und besonderen Lebensumstände der Betroffenen. Der Behandlungsansatz der „Narrativen Medizin“ könnte ihnen sehr helfen.
Der Internationale Tag der Seltenen Erkrankungen findet jedes Jahr am letzten Tag im Februar statt. Zwar sind weltweit 300 Millionen Menschen von einer seltenen Erkrankung betroffen, dennoch gibt es jeweils nur wenige Patientinnen und Patienten mit der gleichen Krankheit. „Allein in Südtirol leben 4810 Personen, die an insgesamt 680 verschiedenen seltenen Krankheiten leiden“, erklärt Dr. Francesco Benedicenti, Leiter des Koordinierungszentrums für Seltene Krankheiten im Südtiroler Sanitätsbetrieb.
Meistens handelt es sich um sehr komplexe Krankheitsbilder. „Bis die korrekte Diagnose feststeht, vergehen oft viele Jahre. Betroffene müssen ihre Symptome und Beschwerden wiederholt erklären, damit sie nicht falsch behandelt werden, denn Gesundheitspersonal und Ärzte kennen die Krankheit in der Regel nicht. Bei Visiten sollte deshalb vor allem ausreichend Zeit zur Verfügung stehen. Kein leichtes Unterfangen im durchgetakteten Berufsalltag“, weiß Dachverband-Präsident Wolfgang Obwexer: „Ich bin aber davon überzeugt, dass es sehr hilfreich ist, sich Zeit zum achtsamen Zuhören zu nehmen. Studien belegen, dass Patienten, die ihre Situation in Worte fassen und in eine kohärente Geschichte übersetzen, höhere Zufriedenheit erleben und damit der Gefahr einer depressiven Störung vorbeugen.“
„Zeit und Verständnis ist das, was wir Patientinnen und Patienten mit einer seltenen Krankheit uns von den Akteuren des Gesundheitswesens am meisten wünschen“, ergänzt auch Anna Faccin, die an der angeborenen Hauterkrankung „Epidermolysis bullosa“ leidet.
„Gerade bei seltenen Erkrankungen spielt das Erzählen der Krankheitsgeschichte eine wesentliche Rolle“, betont Dr.in Ingrid Windisch. Die Bozner Hausärztin hat eine besondere Art, mit ihren Patientinnen und Pateinten umzugehen: „Mich haben die Geschichten der Menschen immer schon interessiert. Befunde sprechen eine technische Sprache und sind wichtig. Doch erst das Zusammenbringen von Befunden und Befinden, von Daten und ihrer Bedeutung für eine erkrankte Person ergibt ein vollständiges und genaues Bild.“
Diese Herangehensweise wird als Narrative Medizin („erzählende Medizin“, von lateinisch narrare „erzählen“) bezeichnet und sie wird etwa in den USA schon seit längerem gelehrt und angewandt. Der Dachverband unterstützt diesen Ansatz und möchte, dass dieser auch in Südtirol immer mehr Fuß fasst. Deshalb wird der Dachverband im Frühling eine Online-Infoveranstaltung zur Narrativen Medizin zusammen mit Dr.in Ingrid Windisch organisieren, die eine Master-Ausbildung in Narrativer Medizin hat. Alle Interessierten (Fachleute, Patienten und Angehörige) können sich bereits jetzt voranmelden.
„Das Motto der UN-Behindertenrechtskonvention ‘Nichts über uns ohne uns‘ kann in der Medizin nichts anderes bedeuten, als nicht zum Behandlungsobjekt zu werden, sondern die Steuerung über das eigene Leben trotz Krankheit zu behalten“, unterstreicht Wolfgang Obwexer. In diesem Sinn will Hausärztin Ingrid Windisch den Menschen und sein Umfeld als Ganzes wahrnehmen. Sie hört sich seine Geschichte an und die seiner Nächsten. Durch diese Narrative Medizin eröffnen sich neue Sichtweisen und es entsteht eine gute Beziehung zwischen Arzt und Patient: „Häufig machen Menschen mit seltenen Erkrankungen die Erfahrung, nicht ernst genommen, nichtgehört zu werden. Dabei sind sie und ihre Angehörigen selbst die besten Experten ihrer Erkrankung. Sie sammeln ihr Leben lang Erfahrungen damit. Ihre Geschichten ernst zu nehmen und genau zuzuhören erleichtert die Behandlung und schafft gegenseitiges Vertrauen.“
Ähnliche Erfahrungen hat auch der Brixner Stefano Brocco als Patient gemacht: „Ich leide an Neurofibromatose. Neben offensichtlichen Hautveränderungen bringt meine Krankheit auch eine ganze Reihe von ‚‘unsichtbaren‘ Schmerzen mit sich, wie z. B. Neuropathie. Im Laufe der Jahre habe ich festgestellt, dass es schwierig ist, diese Neuropathien zu diagnostizieren, und ich denke, dass ich früher hätte diagnostiziert werden können, wenn einige Fachkräfte mir mehr zugehört und mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Schließlich ist das Erzählen der eigenen Geschichte der beste Weg, die Krankheit zu verstehen.“
An sich spielten Erzählungen eigentlich schon immer eine wichtige Rolle in der Medizin. Mit Beginn der modernen Medizin wurden die Erzählungen allerdings mehr und mehr vernachlässigt. Der Fokus verschob sich auf „Fakten“, die als objektiv und wissenschaftlich gelten. In den letzten Jahren jedoch erleben Erzählungen eine Renaissance.
„Es ist sehr wichtig bei der Sammlung der Informationen die ganze Familie mit einzubeziehen. Dies ist besonders bei vererbten Krankheiten hilfreich. Es erleichtert oft wesentlich die Diagnose, wenn das gesamte Umfeld einbezogen wird“, erklärt Francesco Benedicenti.
Ohne ausführliche, tiefgehende Gespräche würde auch Familie Planker aus Wolkenstein noch immer im Dunklen tappen. „Unsere Tochter ist von der seltenen Krankheit CDKL5 betroffen“, erzählt Helina Oberrauch Planker: „Es hat zehn Jahre gedauert, bis die Diagnose klar war. Jana kann sich nicht mitteilen, weder verbal noch in anderer Weise. Umso mehr haben wir als Eltern versucht, dass unsere Beobachtungen ernst genommen wurden. Wir haben gelernt, wie wertvoll ein gutes Gespräch ist und wie wichtig das gemeinsame Überlegen und Entscheiden ist. Da Janas Krankheit sehr selten ist, sind auch die Ärzte daran interessiert, mehr über die Krankheit zu erfahren. So ist die Narrative Medizin gegenseitig von großer Wichtigkeit. Es kommt auf die gute Zusammenarbeit an.“