Leicht verständliche Infos für den Akutfall

„Sternenkinder“: Buch und Broschüre über Fehlgeburten und Stille Geburt

Mittwoch, 15. November 2023 | 14:23 Uhr

Von: mk

Bozen – Der Begriff „Sternenkinder“ bezeichnet Kinder, die vor, während oder nach der Geburt sterben. Obwohl Schwangerschaftsverluste ein Thema von großer PublicHealth-Relevanz sind, da es sehr viele Menschen betrifft, sind außerhalb der Krankenhausmauern die Sensibilität für das Thema und die Gesundheitskompetenz der Betroffenen zumeist nicht mehr als bruchstückhaft. Dr. Barbara Plagg, Wissenschaftlerin am Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen, und der Anthropologe Jörg Oschmann haben zusammen ein Buch mit dem Titel „Sternenkinder. Wissen und Trost“ erarbeitet, in welchem auch Fachleute aus dem Bereich und Betroffene zu Wort kommen. Eine kostenlose Broschüre ergänzt das Buch und bietet Betroffenen leicht verständliche Informationen für den Akutfall.

Unterschiede zwischen Fehlgeburt und Stiller Geburt

Etwa jede sechste Schwangerschaft endet in einer Fehlgeburt. Nicht immer sind die Unterschiede zwischen einer Fehlgeburt und einer Stillen Geburt bekannt. „Eine Kleine Geburt – gemeinhin als ,Fehlgeburt’ bezeichnet – ereignet sich in der frühen Schwangerschaft. Von einer Stillen Geburt sprechen wir hingegen in der späten Schwangerschaft, in der Regel ca. ab der 24. Woche“, erläutert Dr. Barbara Plagg, Wissenschaftlerin am Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen. Neben frühen und späten Verlusten kommen auch Themen im Buch zur Sprache, die durch die Fortschritte in der Reproduktionsmedizin und der Pränataldiagnostik von zunehmender Wichtigkeit sind: Schwangerschaftsabbruch nach auffälliger Pränataldiagnostik, Verlust eines Zwillingskindes und Verluste nach einer In-vitro-Fertilisation (IVF).

Die Idee hinter dem Buch

Trotz der Häufigkeit von Schwangerschaftsverlusten sind die Sensibilität für das Thema in der Gesellschaft und das Wissen der Betroffenen zumeist gering. Weil alles, worüber nicht gesprochen wird, durch Wissenslücken große Unsicherheiten für die Betroffenen birgt, haben Dr. Barbara Plagg und der Anthropologe Jörg Oschmann gemeinsam mit Betroffenen und Fachkräften aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Gynäkologie und Hebammenwissenschaft ein Buch mit dem Titel „Sternenkinder. Wissen und Trost“ (Athesia-Tappeiner-Verlag) erarbeitet. Die Idee, diesem Thema ein Buchprojekt zu widmen, sei einerseits dem Bedarf an Informationen und Unterstützung geschuldet, anderseits sei das Buch aus persönlichen Erfahrungen entstanden, erzählt Dr. Plagg: „Meine Schwester verlor ihr Kind in der frühen Schwangerschaft. Zu diesem Zeitpunkt forschte ich zum Thema Demenz am Klinikum München. Obwohl selbst promovierende Humanbiologin, kam ich mir in dieser Situation bemerkenswert uninformiert und hilflos vor und fragte mich: Wieso passiert so etwas? Wie geht man mit diesem Verlust um? Wie steht man Betroffenen bei? Weil im Laufe der Zeit einige unserer Freund:innen ein Kind verloren haben und auch bei den SUSIs (Südtirol Sisters) – einer Onlineplattform zur Vernetzung und zum Informationsaustausch von Frauen – der Wunsch entstanden ist, dieses Thema auf die Bildfläche zu bringen, haben Jörg Oschmann und ich 2022 einen Kurzfilm gedreht. Im Anschluss ist der Athesia-Tappeiner-Verlag an uns mit der Bitte herangetreten, ein Buch zu veröffentlichen.“

Zusammenarbeit mit Betroffenen und Fachleuten

Das Buch mit dem Titel „Sternenkinder. Wissen und Trost“ ist das Ergebnis intensiver Forschungsund Recherchearbeit und enger Zusammenarbeit mit Betroffenen und Fachleuten. „Das Buch gibt einerseits wissenschaftliche Informationen – sprachlich ansprechend und verständlich aufbereitet – zum Thema Schwangerschaft und Verluste, andererseits gibt es Anregungen und Inputs für die Trauerarbeit. Neben den von mir verfassten Kapiteln beinhaltet es einige Gastbeiträge von Fachleuten, so etwa von Hebammen, Trauerbegleiterinnen, Psychologinnen, einer Gynäkologin und einem Neonatologen“, sagt Dr. Plagg. Das Buch bietet der Leserschaft nicht einzig fachliche Einblicke, sondern gibt auch das Erleben von Betroffenen wieder. „Das Wissen und die Erfahrungswerte von Sternenkindeltern begleiten durch das gesamte Buch“, so Dr. Plagg.

Kompaktes Wissen für Betroffene und Bevölkerung

Um Betroffenen, aber auch Südtirols Bevölkerung kompaktes Wissen zum Thema kostenlos zur Verfügung zu stellen, hat Dr. Plagg neben dem Buch eine Broschüre mit dem Titel „Liebe Mama, lieber Papa…“ erarbeitet. „Sie ist für den Akutfall da, wenn man als Mama und Papa im Krankenhaus sitzt und erfährt, dass das Kind nicht mehr lebt. Aus den Erfahrungen der Sternenkindeltern wissen wir, dass sie im ersten Schock kaum fähig waren, die Informationen, die ihnen von ärztlicher Seite gegeben wurden, zu begreifen. Eine übersichtliche Handreichung kann in solchen Momenten hilfreich sein“, untermauert Dr. Plagg. Die von ihr verfasste Broschüre gibt Antworten auf Fragen der Frauengesundheit und Trauerbewältigung: Was geschieht bei einer Fehlgeburt? Welche Ursachen tragen zu einer Stillen Geburt bei? Was und wer kann in der Trauer helfen? Was passiert mit dem verstorbenen Embryo/Fötus? Muss ich eine Kürettage machen? Wie funktioniert eine Obduktion? Was kann ich tun, wenn die Trauer kaum zu bewältigen scheint?

Unterstützung im Akutfall in Südtirol

Im Akutfall sind die Fachärztinnen und -ärzte für Gynäkologie und Geburtshilfe die ersten Ansprechpartner für Eltern von Sternenkindern in Südtirol. „Das medizinische Personal wird die Situation einschätzen, die Optionen aufzeigen und mit den Eltern besprechen. Aktuell ist es bei uns in Italien zumindest bei Kleinen Geburten noch nicht rechtlich und strukturell veranschlagt, dass Frauen eine Hebammenbetreuung bekommen. Das wäre aber wichtig und einige Krankenhäuser ermöglichen das bereits“, erläutert Dr. Barbara Plagg. Sie weist darauf hin, dass Stille Geburten rechtlich gesehen anders abgesichert seien. Die Trauer manifestiere sich unterschiedlich, „jede und jeder benötigt folglich etwas anderes“, sagt Plagg. „Einige schaffen es, mit Familie und Freunden die Situation zu bewältigen, andere Trauerwege sind länger und komplizierter und brauchen eine professionelle Begleitung durch eine psychologische bzw. psychotherapeutische Betreuung. Der Austausch mit anderen Eltern von Sternenkindern kann hilfreich sein und auch dazu gibt es in Südtirol inzwischen einige Gruppen“, berichtet Dr. Plagg.

Das Tabu brechen und die Trauer teilen

Das Buch und die von Dr. Barbara Plagg verfasste Broschüre betonen die Dringlichkeit, das Tabu ,Fehlgeburt und Stille Geburt’ in Südtirols Gesellschaft zu brechen. „Solche Ereignisse sind häufig, trotzdem sind das Stigma, die Unsicherheit und die Scham noch immer groß. Die Anerkennung des Verlustes und die Begleitung der Familien sind daher zentral für den Trauerweg“, betont Dr. Plagg. Viele Eltern haben Schwierigkeiten, über einen Kindsverlust zu sprechen. „Eltern sprechen nicht darüber – aus Scham, aus Trauer, aus dem Gefühl, dass es nur ihnen passiert und auch, weil viele sich selbst schuldig fühlen“, sagt sie. „Verwaiste Eltern habe viele Gründe, nicht über ihren Verlust zu sprechen, aber mit dem Buch, der Broschüre und dem Kurzfilm zeigen wir auf, dass es tausend mal mehr gute Gründe gibt, über Kindsverluste zu sprechen. Und das können und sollten wir alle tun, weil Schweigen die Trauer und die Scham nur verstärkt“, hebt Dr. Plagg hervor. „Der Schmerz der betroffenen Eltern wird nicht größer, wenn man darüber spricht. Das Gegenteil ist der Fall! Verschweigen und so tun, als wenn nichts gewesen wäre, vergrößert bei den meisten das Gefühl der Einsamkeit. Wichtig ist, dass von der Umgebung der Verlust anerkannt wird und nicht mit Floskeln wie ,Es war ja noch nicht mal auf der Welt’ oder ,Ihr werdet sicher noch ein Baby bekommen’ versucht wird, den Schmerz herunterzuspielen. Denn das Gefühl, unverstanden und einsam zu sein, wird durch solche Floskeln nur größer“, so Dr. Barbara Plagg.

Die Aufgabe der Hausärztinnen und Hausärzte

Bei der Diagnose eines Schwangerschaftsverlusts nehmen Hausärztinnen und Hausärzte in Südtirol und in Italien eine Nebenrolle ein, da sie – im Gegensatz zur Lage in vielen anderen europäischen Ländern – die schwangeren Frauen nicht direkt begleiten. „Dort, wo eine Allgemeinmedizinerin oder ein Allgemeinmediziner über ein Ultraschallgerät verfügt, kann es durchaus vorkommen, dass gerade Hausärztinnen und Hausärzte die Diagnose stellen oder auf einen möglichen Schwangerschaftsverlust aufmerksam machen“, sagt der Allgemeinmediziner Dr. Giuliano Piccoliori, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen. „Ein Kindsverlust in der Schwangerschaft ist ein geburtshilflich wichtiges Detail im Leben einer Frau. Daher gehört ein solcher Verlust in jede Anamnese, damit der Umgang dementsprechend erfolgen kann und etwa bei Folgeschwangerschaften eine besondere Umsicht da ist“, sagt Dr. Piccoliori. Den Hausärztinnen und Hausärzten komme bei der Information und Begleitung der Frauen eine wichtige Rolle zu, betont Piccoliori: „Wir Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner stellen häufig den ersten Bezugspunkt für alle Gesundheitsprobleme der Frauen dar und können ihnen dabei helfen, den Schmerz eines Kindsverlustes zu verarbeiten“, betont Dr. Piccoliori.

Sternenkinder: Aufklärung ist von öffentlichem Interesse

Südtirols Institut für Allgemeinmedizin ist der öffentlichen Gesundheitsfürsorge (Public Health) verpflichtet. „Schwangerschaftsverluste sind rein quantitativ gesehen sehr häufig und damit ein wichtiges Public-Health-Thema. Gleichzeitig sind – wie leider in einigen anderen Bereichen der Frauengesundheit – noch viel Stigmatisierung, Halbwissen und Unsicherheit außerhalb der Krankenhausmauern zu diesem Thema da“, unterstreicht der Allgemeinmediziner Dr. Adolf Engl, Präsident des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen. „Wissen schafft Sicherheit und gibt Handlungsfähigkeit auch in schwierigen Gesundheitsentscheidungen. Daher ist es unabdingbar, dieses Thema offen zu besprechen und möglichst viele Menschen und auch Nicht-Betroffene zu erreichen und zu sensibilisieren“, sagt Dr. Engl. „Das Buch und die Broschüre zu den Sternenkindern tragen dazu bei, das Bewusstsein für das Thema zu schärfen und Betroffenen und deren Unterstützern wertvolle Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Zugleich stärken diese Veröffentlichungen die Gesundheitskompetenz aller Bürgerinnen und Bürger“, so Dr. Engl.

Bezirk: Bozen