Von: mk
Bozen – Das Gegenteil von Stigmatisierung ist Wissen: Die Psychologin und Psychotherapeutin Alessia Corazza von YoungHANDS verweist anlässlich des heugigen Welttags der Mädchen darauf, dass sich Suchtprobleme bei Mädchen und Jungen unterschiedlich äußern. Sie wirken sich auf Beziehungen aus, auf die Familie, auf die Arbeit und die Schule. Die Psychologin will nicht verallgemeinern, weist aber darauf hin, dass zu beobachten sei, dass Mädchen früher mit Alkohol anfangen als Jungen, aber auch früher damit aufhören.
Mädchen neigen eher dazu, zu Hause zu trinken, ohne gesehen zu werden, während der Konsum bei Jungen eher bestehen bleibt und sie auch öffentlich trinken, weil sie der Konsum als „Mann“ ausweist. Was Geräte betrifft, neigen Mädchen eher dazu, Smartphones wegen der sozialen Netzwerke missbräuchlich zu verwenden, während Jungs eher zu Videospielen neigen. Dabei fällt der Missbrauch von Smartphones weniger auf, weil auch Erwachsene sie benutzen und es mehr Rechtfertigungen für die Nutzung gibt, etwa für das Hören von Musik oder das Chatten. Der Missbrauch beim Videospiel ist schwieriger zu verbergen, die benutzten Spiele werden von den Erwachsenen oft abgelehnt. Bei Geräteabhängigkeit nutzen und missbrauchen Mädchen eher Smartphones für soziale Plattformen, während Jungen eher Videospiele als Mittel der Geselligkeit nutzen.
Ein Beispiel: Die Eltern eines 16-jährigen Mädchens wenden sich an YoungHANDS, weil ihre Tochter ihnen mitgeteilt hat, dass sie bereits seit einiger Zeit Alkohol konsumiert, obwohl es gesetzlich verboten ist. HANDS bietet zunächst der Familie Unterstützung an, weil das Mädchen nicht bereit ist, den Dienst in Anspruch zu nehmen. Nach mehreren Gesprächen der Eltern mit ihrer Tochter zeigt sich das Mädchen bereit, die Unterstützung von YoungHANDS anzunehmen. Ein Psychologe begleitet das Mädchen bei psychotherapeutischen Gesprächen, ein Erzieher wird ihr Ansprechpartner bei Einzel- und Gruppenkursen. Gleichzeitig führen die Mitarbeitenden von YoungHANDS Gespräche mit allen Familienmitgliedern, um die Kommunikation innerhalb der Familie zu verbessern.
Die Anzeichen, um zu erkennen, ob ein Mädchen Probleme mit Alkohol- oder Computersucht hat, seien von Person zu Person unterschiedlich, sagt Alessia Corazza. Zu den Anzeichen, die auf ein Vorliegen von Sucht hindeuten, gehören Änderungen im Verhalten, zum Beispiel wenn ein Mädchen (aber auch Jungs) plötzlich reizbar werden, Stimmungsschwankungen haben, nicht mehr redebereit sind oder keine Zeit mehr mit der Familie verbringen wollen. Suchtverhalten können sich in abnehmenden schulischen Leistungen äußern, im Verzicht auf regelmäßige Aktivitäten wie Sport, in Veränderungen des körperlichen Erscheinungsbildes, in der Verheimlichung von Alkoholkonsum oder in der Minimierung von online verbrachter Zeit. Sucht könne sich auch in Schlafstörungen manifestieren: „Es ist wichtig, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen“, warnt Alessia Corazza. Es muss kein Sucht vorliegen, verschiedene Gründe können zu einer Verhaltensänderung führen, beispielsweise Pubertät, Probleme in der Schule, mit Freundinnen und Freunden oder aufgrund von besonderen Situationen in der Familie.
„Falls ein Suchtverhalten vorliegt, gilt es zunächst zu bedenken, dass Sucht eine Krankheit ist“, betont die Psychologin und Psychotherapeutin. Daher sei es wichtig, keine wertende Haltung einzunehmen, also weder zu beschuldigen oder zu tadeln. Verständnisvolle und taktvolle Gespräch würden die Möglichkeit bieten, Kommunikation zu eröffnen. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass sich das Mädchen distanziert und oder dem Dialog verschließt. „Gespräche brauchen Zeit“, sagt Alessia Corazza. Es sei wichtig, da zu sein, sich Zeit zu nehmen, dem Mädchen das Gefühl zu geben, unterstützt und verstanden zu werden und ihm auf jeden Fall professionelle Hilfe anzubieten. Stigmatisierung sei der falsche Weg. Eltern und Jugendliche sollten sich gut informieren. „Wir brauchen Wissen über die Erziehung zum Wohlbefinden junger Menschen. Aufklärung darüber beginne zu Hause, setze sich in der Schule fort und in den sozialen Medien über verschiedene Informationskanäle. Unwissenheit und Angst verlangsamen das Bewältigen von Problemen. Wenn Sucht als Konsumstörung betrachtet wird, verlagere sich das Konzept von der Identität der Person und auf ihr Verhalten. Dann lasse sich das Verhalten leichter ändern.
Bezugspersonen spielen dabei eine wichtige, wenn auch nicht die einzige Rolle. Genetische und umweltbedingte Faktoren sind bei Suchtkrankheiten auch mit zu bedenken. Alessia Corazza rät Eltern und Angehörigen dazu, den Druck der Außenwelt zu filtern und abzuschwächen. Mädchen fühlten sich oft dazu drängt, die Schönste, die Dünnste, die am besten Gekleidete zu sein: „Wir sollten Mädchen die Idee vermitteln, dass es keine Anpassung braucht und jedes so sein kann, wie es möchte.“ Auch wenn es schwierig ist, sei es wichtig, auf dem oft langen Weg dabei zu bleiben: „Sprechen Sie mit dem Mädchen, fragen Sie es, wie es ihm wirklich geht, glauben Sie an ihre Tochter und unterstützen Sie sie bei der Verwirklichung ihrer Talente. Erkennen Sie ihre Stärken und verstärken Sie sie!“
Die Zahl der Mädchen, die YoungHANDS begleitet, steigt kontinuierlich: Während im Jahr 2020 noch 78,4 Prozent der Betreuten Jungs und 21,6 Prozent Mädchen waren, wuchs der weibliche Anteil im Jahr 2022 auf 28 Prozent. Die Hauptgründe für die Begleitung durch YoungHANDS waren Spielsucht oder „Gaming disorder“ (41 Prozent im Jahr 2020 und 48 Prozent im Jahr 2022) und Alkohol (24,6 Prozent im Jahr 2020 und 20 Prozent im Jahr 2022).
YoungHANDS bietet nach einem ersten Gespräch, bei dem die Bedürfnisse der Betroffenen eruiert werden, einen individuellen, multidisziplinären Weg an. Das bedeutet, dass dem Mädchen nach einer klinischen Beurteilung eine psychologische und – wenn nötig – auch eine sozialpädagogische Begleitung angeboten wird. Bei Bedarf, oder wenn das Familienthema eng mit den Problemen des Mädchens verknüpft ist, bietet YoungHANDS auch Unterstützung für die Familie an.
Geschlechtsspezifischen Merkmale der Sucht bei Mädchen und jungen Frauen
Die wissenschaftliche Forschung zeigt zahlreiche signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede bei den verschiedenen Formen der Sucht auf: auf der Ebene des Missbrauchsverhaltens, der spezifischen Risiko- und Anfälligkeitsfaktoren, der neurobiologischen und hormonellen Mechanismen, der Impulskontrolle und der Reaktion auf die Behandlung. So verbringen Jungen mehr Zeit als Mädchen mit dem Surfen im Internet, mit Videospielen oder anderweitiger Unterhaltung am Computer, bis hin zur Sucht (Johansson & Götestam, 2004). Eine italienische Studie berichtet, dass in einer Stichprobe von Schülerinnen und Schüler einer Sekundarschule fünf Prozent der jungen Menschen mäßig und 0,79 Prozent schwer süchtig nach dem Internet waren, wobei der Anteil der Männer höher war (Poli & Agrimi, 2012). Diese männliche Überzahl ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass die Online-Aktivitäten, die am häufigsten mit Internetsucht in Verbindung gebracht werden (Spiele, virtueller Sex, Glücksspiel), immer noch mehr Jungen als Mädchen betreffen (Cooper et al., 2002). Dem US Center for Online Addiction zufolge ist Internetsucht vor allem durch cyber-sexuelle Abhängigkeit (virtueller Sex), cyber-relationale Abhängigkeit (soziale Beziehungen oder Chats) und Net-Gaming (Spiele, Videospiele) gekennzeichnet.
Alessia Corazza ist Psychologin und Psychotherapeutin bei YoungHANDS. Der Dienst von HANDS kümmert sich um Minderjährige und junge Erwachsene zwischen zwölf und 25 Jahren, die Alkohol, Geräte, soziale Medien oder Glücksspiel missbrauchen oder süchtig danach sind. Im Rahmen des Dienstes wird den Menschen ein individueller und multidisziplinärer Ansatz geboten. Neben psychologischer Beratung und Therapie werden pädagogische und soziale Interventionen gesetzt. YoungHANDS befindet sich im vierten Stock der Räumlichkeiten des Vereins HANDS Onlus in der Duca-D’Aosta-Straße 100 in Bozen. Geöffnet ist die Dienststelle von Montag bis Donnerstag von 8.30 bis 12.30 und von 14.00 bis 18.00 Uhr, am Freitag von 8.30 bis 12.30 Uhr, Tel. 800720762.