Von: mk
Bozen – Die Tagung des Netzwerks für Suizidprävention vom 10. September 2020 im Bozner Pastoralzentrum anlässlich des Welttages der Suizidprävention hat es bestätigt: Suizide in Südtirol werden glücklicherweise wieder seltener.
Anfang Juni hatte sich die dichteste Häufung von Suiziden in Südtirol seit Beobachtung dieses Phänomens ergeben, in sieben Tagen beendeten sechs Menschen ihr Leben. Die Vermutung der Experten der Europäischen Allianz gegen Depression und des Hilfsnetzwerks PSYHELP Covid 19 war, dass diese tragische Entwicklung unmittelbar von der Coronakrise beeinflusst wäre. Im Verlauf der Krise haben sich Depressionserfahrungen in Italien und Österreich verdreifacht, wie verschiedene Studien belegen. Mehr und schwerere Depressionen bringen höhere Suizidgefahr mit sich, denn 40 bis 70 Prozent aller Suizide sind auf die Krankheit Depression zurückzuführen.
In diesem Sinne war eine Häufung von Selbsttötungen tatsächlich zu erwarten, und die Reaktion darauf sofort möglich. Die 15 öffentlichen Dienste und 20 privaten Organisationen, die am Netzwerk Psyhelp beteiligt sind, wurden umgehend informiert und gebeten, ihre Hilfeleistung noch sichtbarer anzubieten und sich in der Krise noch aktiver um bisher Betreute zu kümmern. Mit den wichtigsten Medien Sudtirols konnte die Europäische Allianz bereits 2018 den Pakt „Media help survive“ schließen, der genaue Hinweise für hilfreiche, vor weiteren Suiziden schützende Berichterstattung enthält und diesmal aktiviert wurde. Seit 2010 ist erwiesen, dass so genannte „Ermöglichungsgeschichten“, in denen Betroffene ihre schweren Krisen genauso schildern wie die Lösungen, die sie dafür gefunden haben, einen positiven Nachahmungseffekt auslösen. Die hilfreiche Wirkung wird verstärkt, wenn diese Beiträge ergänzt werden durch Interviews mit Experten, in denen die Vermeidbarkeit von Suiziden und die Behandlungsmöglichkeit zugrunde liegender Störungen durch Ärzte und Psychologen geschildert wird. Ein weiterer Pluspunkt ist die Veröffentlichung von Anlaufstellen, an denen man rund um die Uhr Hilfe findet.
Davon besitzt Südtirol verschiedene: Die Notrufnummer 112, der hausärztliche Bereitschaftsdienst und der psychiatrische Bereitschaftsdienst an den Krankenhäusern Bozen, Meran, Brixen und Bruneck sind zu jedem Zeitpunkt aktivierbar, wenn es um Verhütung von Suiziden geht. Im Vorfeld sind auch die Telefonseelsorge, telefono amico und young and direct außerordentlich hilfreich, wenn von Krisen Erschütterte Gesprächsbedarf haben und Handlungsanweisungen brauchen.
Im aktuellen Fall reagierten verschiedene Medien sofort durch Veröffentlichung von geeigneten Texten psychiatrischer Experten und durch wiederholte Darstellung einer Ermöglichungsgeschichte – dafür vor allem sei Richard Santifaller, der mit viel Zivilcourage an die Öffentlichkeit trat, gedankt. Es ist wohl nicht zuletzt auf die gezielte und gemeinsame Intervention von klinischen Fachleuten und sensiblen Journalisten zurückzuführen, dass die tödliche Häufung unmittelbar danach beendet wurde. Selbstverständlich bleibt in Südtirol noch viel zu tun. Die Erreichbarkeit gefährlicher Orte im Land ist mit seinen vielen Brücken und Felsen hoch. Ein Geländer wird psychologisch erst als Hindernis wahrgenommen, wenn es 1,3 m hoch ist. Jeder Meter zusätzliche Höhe verringert die Suizidhäufigkeit dort um 50% und entschärft so genannte „hot spots“ oder riskante Stellen. Netze unter Brücken zu spannen macht verzweifelte Versuche dort deutlich seltener, wie die Schweizer Brückenstudie belegt. Am meisten helfen natürlich menschliche Patrouillen, aber auch installierte Plakate mit Hilfsnummern oder Telefone verringern das Risiko.
Nicht vergessen werden dürfen Hinterbliebene. Sie benötigen Verständnis in ihrer ohnmächtigen Trauer, Ansprechpartner, Anlaufstellen, vor allem aber ein Klima, in dem über Schicksalsschläge offen gesprochen werden darf. In dem Trost fast zur Selbstverständlichkeit wird, nicht zur Ausnahme.
Die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Experten der Behandlung und Experten der Information soll jedenfalls fortgesetzt werden. Vor einem Jahr diskutierte die Journalistenkammer mit Fachleuten der Psychologie, Psychiatrie und Linguistik fast hellseherisch das Thema Berichterstattung über Suizid. Dabei waren Petra Schweigl als einen Suizidversuch Überlebende, und Günther Plaickner als Hinterbliebener extrem offen und hilfreich für das Verständnis einfühlsamer Berichterstattung. Universitäts-Exrektor Johann Drumbl fokussierte auf zweisprachige Botschaften in möglichst großer Klarheit, er sprach sich für eine Ethik der Berichterstattung aus, die Sprach- und Kulturgrenzen überwindet.
Heuer wollen Journalistenkammer und Europäische Allianz gegen Depression das Leitthema „Angst“ am 1. Oktober, dem Europäischen Tag der Depression, vertiefen. Es geht dabei um Angst in den Medien und Angst vor den Medien, aber auch um das sprunghafte Anwachsen von Angststörungen in der Coronakrise. Es geht darum, aus Schwierigkeiten möglichst rasch zu lernen. Das zeichnet präventiven Journalismus aus.