Von: ka
Kiew/Donetzk Oblast – In den Diskussionen, dass die Ukraine dringend Flugabwehrwaffen, Artilleriemunition und Panzer braucht, geht unter, dass es der ukrainischen Armee auch an medizinischem Personal fehlt. Der Mangel an Ärzten und Sanitätern sowie fronttauglichen Rettungsfahrzeugen sorgt gemeinsam mit den intensiven Kämpfen dafür, dass verwundete Soldaten auf sich allein gestellt sind. Wenn überhaupt, vergehen Stunden oder gar Tage, bis sie Hilfe erhalten, was in der traurigen Kriegsrealität in der Ostukraine oftmals das Todesurteil bedeutet. Das Schlimmste aber ist, dass Ärzte und Pfleger manchmal dazu gezwungen sind, eine Risikobewertung vorzunehmen, was nichts anderes heißt, als das eigene Leben mit dem der verwundeten Soldaten abzuwägen.
Mykhailo, ein 40 Jahre alter ukrainischer Soldat, erreichte den ukrainischen Unterstand weniger als eine Stunde, nachdem er von russischen Drohnen getroffen worden war. „Als ich dort ankam, waren die beiden Soldaten bereits der Kälte zum Opfer gefallen“, so der 40-Jährige gegenüber dem The Kyiv Independent.
Da die Gefahr bestand, dass die Russen die Stellung erneut beschießen würden, kehrte er sofort wieder um. Später erfuhr er, dass eine Gruppe von vier ukrainischen Soldaten während des Schichtwechsels von einer russischen Drohne gesichtet und von ihr angegriffen worden waren, wodurch drei Soldaten gefallen waren. Was dann geschehen war, ist leider typisch für Frontabschnitte, die unter einem akuten Mangel von Ärzten und Pflegekräften leiden. Dem einzigen Soldaten, der den Angriff überlebt hatte, war es hingegen trotz seiner schweren Verwundung gelungen, sich bis zum Hunderte von Metern entfernten Evakuierungspunkt durchzuschlagen. Als Mykhailo sich auf die lebensgefährliche Mission begab, nach seinen Kameraden zu sehen, musste er daher bedauerlicherweise feststellen, dass diese bereits tot waren. „Ich weiß, dass ich bei solchen Kontrollgängen den Tod treffen kann“, berichtet Mykhailo.
Der Hauptgrund für die fehlende medizinische Evakuierung ist, dass die Kämpfe einfach zu heftig sind. Idealerweise sollten Verwundete innerhalb der sogenannten „goldenen Stunde“, also innerhalb der ersten 60 Minuten nach der Verwundung, geborgen werden, aber da die Kämpfe an den meisten Frontabschnitten sehr heftig sind, kann es Stunden oder gar Tage dauern, bis Sanitäter die verletzten Soldaten erreichen. In vielen Fällen wird dadurch oft jede Hoffnung zunichtegemacht, das Leben der Soldaten noch retten zu können.
Die Soldaten, die in den Schützengräben und Stellungen auf sich allein gestellt sind, müssen ihre Kameraden unter schwerem Beschuss oft selbst aus verschütteten Unterständen herausziehen. Manchmal müssen sie bis zu den nächsten Evakuierungspunkten fünf bis sieben Kilometer laufen, von wo aus sie dann mit Fahrzeugen in behelfsmäßige Krankenhäuser gebracht werden. Zu allem Unglück kommt hinzu, dass sie dabei leicht von russischen Aufklärungsdrohnen entdeckt und dann von Kampfdrohnen und Artilleriegranaten getötet werden können.
Der akute Mangel an Ärzten und Sanitätern sowie an fronttauglichen Rettungsfahrzeugen zwingt die ukrainische Armee dazu, das Risiko von Verlusten medizinischen Personals auf das absolute Minimum zu reduzieren. Da auch Fahrzeuge, die Verwundete bergen, unter Beschuss geraten können, droht ansonsten die Gefahr, dass ganze Einheiten ohne medizinische Versorgung bleiben. Wie Soldaten dem Kyiv Independent berichteten, müssen Einheiten, die 300 bis 600 Infanteristen umfassen, mit nur einem Mannschaftstransportwagen auskommen, was bedeutet, dass eine schnelle Evakuierung verwundeter Soldaten in der grausamen Kriegsrealität in der Ostukraine eine seltene Ausnahme bleibt. Manchmal gehen durch russischen Beschuss oder durch technische Probleme dennoch Sanitätstransportwagen verloren, was den Mangel noch verschärft.
Die Ukrainer versuchen dennoch, allen Verwundeten zu helfen. Können die Rettungskräfte nicht zu den verletzten Soldaten vordringen, werden „Versorgungsdrohnen“ losgeschickt. Diese werfen über die Verwundeten Wasser, Lebensmittel und Verbandszeug ab, was die weniger verwundeten Soldaten unter anderem in die Lage versetzt, ihre schwerer verletzten Kameraden medizinisch zu versorgen.
Auch mit unbemannten Fahrzeugen, die Verwundete ferngesteuert zu den frontnahen Erstversorgungsplätzen bringen, wird experimentiert. Der Idee, für die Verwundetenevakuierung Zivilfahrzeuge zu benutzen, war hingegen kein großer Erfolg beschieden. Diese Fahrzeuge liefen in Frontnähe Gefahr, entweder im Schlamm und im schwierigen Gelände steckenzubleiben oder aufgrund ihrer leichten Entdeckbarkeit und fehlenden Panzerung für die Fahrzeuginsassen zum Sarg zu werden.
Das Schlimmste aber ist, dass Ärzte und Pfleger manchmal dazu gezwungen sind, eine Risikobewertung vorzunehmen, was nichts anderes heißt, als das eigene Leben mit denen der verwundeten Soldaten abzuwägen. Droht zu starker Beschuss und befindet sich die Stellung mit den Verwundeten an vorderster Front, kann das auch bedeuten, dass niemand losgeschickt wird.
Nachdem sie über sich Stimmen russischer Soldaten gehört hatten, kam es manchmal auch vor, dass verschüttete, aber noch lebende ukrainische Soldaten darum baten, die eigene Stellung zu beschießen. Um das Leben der Verschütteten nicht zu gefährden, wurden in diesen Fällen Artilleriegranaten kleinerer Kaliber verschossen.
Tragischerweise macht sich bei der Verwundetenevakuierung auch der Munitionsmangel bemerkbar. Um bei der Evakuierung die Gefahr gegnerischen Beschusses zu verhindern, würde die eigene Artillerie normalerweise Sperrfeuer schießen, aber da die Ukraine nicht genügend Artilleriegranaten zur Verfügung hat, werden diese für die reinen Kampfeinsätze aufgespart, was für die Sanitäter das Risiko, in russisches Feuer zu geraten, erheblich erhöht.
Besorgniserregend ist auch die Überlastung des spärlich vorhandenen medizinischen Personals. Vitalii – ein 46-jähriger Arzt, der einer Einheit mit wenig Fronterfahrung zugeteilt wurde – berichtet, dass er zu Beginn seines Einsatzes an schlimmen Tagen allein bis zu 300 Verwundete zu versorgen hatte. Die Ärzte und Sanitäter, die vor dem Krieg zumeist in normalen Krankenhäusern tätig waren, haben zudem oftmals Schwierigkeiten, mit der Grausamkeit des Kriegs zurechtzukommen. „Besonders am Anfang sind die verzweifelten Schreie der Schwerverwundeten kaum zu ertragen“, lässt ein Arzt den Kopf sinken.
Hinzu kommt die schwere psychische Belastung, für manchen Schwerverwundeten nichts mehr tun zu können und nur mehr sein Sterben zu begleiten oder den ganzen Tag Amputationen vornehmen zu müssen. Trotz der schwierigen Bedingungen leistet das medizinische Personal der Ukraine – sowohl an der Front als auch in den Krankenhäusern, wo täglich Tausende von Verwundeten ankommen – hervorragende Arbeit. In Ausübung ihrer Pflicht verloren nicht wenige Ärzte und Sanitäter ihr Leben.