Untersuchungsbericht zu Missbrauch in Südtirols Kirche sorgt für Aufsehen

Bischof: “Belastender, aber notwendiger Blick auf die Realität”

Montag, 20. Januar 2025 | 16:30 Uhr

Von: apa

Bozen – Ein von der katholischen Diözese Bozen-Brixen in Südtirol in Auftrag gegebener Bericht bzw. Gutachten zum sexuellen Missbrauch Minderjähriger und Schutzbefohlener durch Kleriker im Zeitraum von 1964 bis 2023 hat ein offenbar erschreckendes Ergebnis gebracht: 59 Personen seien “überwiegend wahrscheinlich” oder nachgewiesen betroffen gewesen, 24 Fälle sexuellen Missbrauchs durch Priester wurden aufgelistet.

Aus den rund 1.000 gesichteten Personalakten ergaben sich insgesamt 67 Hinweise auf Sachverhalte mit möglichen sexuellen Übergriffen, hieß es am Montag seitens der Anwälte der Münchner Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl (WSW), die am Montag in Bozen die Ergebnisse ihres mehr als 600 Seiten umfassenden Gutachtens unter dem Titel “Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker im Bereich der Diözese Bozen-Brixen von 1964 bis 2023” präsentierten. Hinzu kämen weitere 16 Fälle, die ungeklärt seien. Insgesamt wurden 41 Priester beschuldigt – bei 29 Geistlichen träfen die Vorwürfe entweder mit überwiegender Wahrscheinlichkeit oder nachweisbar zu, bei zwölf weiteren konnten die Vorwürfe nicht ausreichend beurteilt werden, wurde mitgeteilt. Manchen Priestern werden mehrere Taten vorgeworfen.

Die Diözese Bozen-Brixen legte damit als erste in Italien eine unabhängige Untersuchung zu Missbrauchsfällen in ihrem Bereich vor. Die Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl machte sich im Zusammenhang mit Untersuchungen zur Missbrauchsfällen im kirchlichen Bereich bereits einen Namen: So erstellte sie die Studien zum Missbrauch in den Bistümern Köln (2018) und Aachen (2020) sowie für die Erzdiözese München-Freising (2022).

Mehr als die Hälfte der Betroffenen weiblich

Als Besonderheit bezeichneten die Anwälte die Tatsache, dass mehr als 51 Prozent der Opfer weiblich waren und nur 18 Prozent eindeutig dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden konnten. Dagegen hätten bei Untersuchungen etwa in deutschen Diözesen die Zahl der männlichen Betroffenen bei weitem überwogen. Die meisten Opfer waren demnach zum Tatzeitpunkt Kinder und Jugendliche im Alter von acht bis 14 Jahren. Die meisten beschuldigten Priester waren zum Zeitpunkt der ersten Tat zwischen 28 und 35 Jahre alt.

Die Kirchenleitung vergangener Jahrzehnte wurde laut Südtiroler Medienberichten mit schweren Vorwürfen konfrontiert. Bei den 24 Fällen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker hätten Verantwortliche in der Diözese teilweise über Jahre hinweg “fehlerhaft oder zumindest unangemessen gehandelt”. Wastl nannte den Fall eines Priesters, der seit den 1960er-Jahren kleine Mädchen “begrapscht” und missbraucht habe, aber jahrzehntelang von einer Gemeinde in die nächste versetzt worden sei. Erst 2010 habe man “den Mut gehabt”, ihn aus der Seelsorge zu entfernen. Generell hätten Bischof und Generalvikar in der Zeit vor 2010 meist “mangelhaft oder unangemessen” auf die Fälle von Missbrauch reagiert.

Rechtsanwalt Wastl erinnerte zudem an aus anderen Studien bekannte systemische Defizite in der katholischen Kirche, die Missbrauch begünstigen würden. Dies treffe auch im Blick auf Südtirol zu. Ausdrücklich kritisierte er für die Vergangenheit auch eine “mangelnde Fehlerkultur”, die Kirchenverantwortliche irgendwann “abhängig vom Täter” machen würden und betonte, dass die Achtung des Prinzips der Unschuldsvermutung präventive Maßnahmen und Vorkehrungen nicht ausschließe. Der Rechtsanwalt thematisierte zudem die zu beobachtende Spaltung von Gemeinden nach Bekanntwerden von Missbrauchsfällen und die Notwendigkeit professioneller Hilfe für diese Gemeinden.

Aktuelle Diözesanleitung mit “Willen zu Verbesserungen”

Nach den 1990er-Jahren habe die Zahl der Missbrauchsfälle abgenommen. Neue, noch strafrechtlich zu behandelnde Fälle, seien bei den Untersuchungen bis dato nicht gefunden worden, berichtete Wastl. Erst seit dem Jahr 2010, als Bischof Karl Golser die Ombudsstelle einrichtete und Priester des Amtes enthob, habe in der Diözese ein Umdenken eingesetzt. Sein Nachfolger Ivo Muser und Generalvikar Eugen Runggaldier hätten “ehrliches Bemühen” gezeigt, wurde im Bericht festgehalten.

Die Diözese Bozen-Brixen sei die einzige der mehr als 200 Diözesen Italiens, die bisher “den schmerzhaften Weg der Aufklärung” gegangen sei, betonte der Jurist. Er lobte die gute Zusammenarbeit, Lernbereitschaft und Fehlerkultur der aktuellen Diözesanleitung. “Hier war von Anfang an der Wille zu Verbesserungen und die Bereitschaft Fehler einzugestehen da – das erleben wir eher selten.” Man habe Zugang zu allen Akten gehabt und sei auch bei der Suche und Kontaktaufnahme mit Zeitzeugen und Betroffenen unterstützt worden.

Bischof: “Belastender, aber notwendiger Blick auf die Realität”

Indes erhielten Bischof Muser und Generalvikar Runggaldier die beiden je rund 600 Seiten umfassenden Bände auf Deutsch und Italienisch, den vorherrschenden Sprachen in der Südtiroler Diözese. Auch Muser waren die Ergebnisse des Gutachtens vor der Präsentation nicht bekannt. Er will am kommenden Freitag in einer Pressekonferenz ausführlich dazu Stellung nehmen, wie es in einer Aussendung der Diözese hieß.

Bereits jetzt sprach der seit 2011 amtierende Muser aber von Scham über die Missbrauchsfälle und den Umgang der Kirche mit ihnen. Der Bischof ortete einen “belastenden, aber notwendigen Blick auf die Realität” und betonte: “Wir wollen, dass die Kirche ein sicherer Ort ist – besonders für Kinder, Jugendliche und verletzliche Personen.” Gerade im Gespräch mit Betroffenen habe er viel über die zerstörerische Kraft von Missbrauch gelernt, betonte Muser. Er dankte den beteiligten Anwälten, insbesondere aber “den Betroffenen und allen, die durch ihren Mut dazu beigetragen haben, dass dieses Gutachten möglich wurde”. Er wolle sich an die Seite der Betroffenen stellen; “ihr Leid ist beschämend und fordert uns heraus, hinzusehen”, erklärte der Bischof. “Jeder Fall ist einer zu viel. Viel zu viel.”

Die Diözese Bozen-Brixen hatte im November 2023 ein auf drei Jahre angelegtes Projekt “Mut zum Hinsehen” gestartet, um Missbrauchsfälle im kirchlichen Bereich aufzuarbeiten und die Prävention von Missbrauch zu verbessern. Den jetzt beschrittenen Weg wolle die Diözese weitergehen, betonte Bischof Muser.

Direktlink zum gesamten Untersuchungsbericht.

Bezirk: Bozen

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