Von: mk
Bozen – Roger Pycha, Primar der Psychiatrie am Krankenhaus Brixen, erläutert wieso psychische Krisen gerade zur Weihnachtszeit ein großes Thema sind und erklärt, wo Hilfe gefunden werden kann.
Nicht alles, was glänzt ist Gold. Auch Schneekristalle glänzen eisig. Zu Weihnachten macht die Kälte draußen bereit für innere Wärme, man rückt zusammen im Familienkreis, wünscht sich Freude und will sie fast erzwingen, auf den Tag und auf die Stunde. Am Heiligabend soll das alles, bereichert um möglichst überraschende Geschenke, über die Bühne gehen. Manche ärgern sich über Regiefehler. Andere sind ganz einfach ausgegrenzt, fallen durch den Rost der zusammengerückten Familien in schneidende Einsamkeit, in innere Kälte.
Zu Neujahr gibt es einen Neustart nach ausgelassenem Feiern. Hoffnungen und Wünsche werden frei, manchmal transportiert durch etwas Alkohol. Nicht alle Menschen ziehen positive Bilanzen. Manche bemühen sich um ein Lächeln nach außen, um nicht aufzufallen. Andere sind von vorneherein nicht mit von der Partie.
Es ist eine alte Therapeutenerfahrung: Weihnachten und Neujahr sind Krisenzeiten. Das gewollt Positive zieht auch gegenteilige Kreise – Schwierigkeiten und Ängste brechen auf. Als Therapeut und als Mensch kann man auf Krisen vorbereitet sein, wenn Feste zu feiern sind. Tatsächlich nehmen um Weihnachten die Anrufe bei Telefonberatungsstellen um bis zu 30 Prozent zu, die Verlassenheit wird zum vorrangigen Thema. Auch Selbsthilfegruppen und –vereine werden stärker beansprucht und organisieren genau zu Weihnachten Feiern für Alleinstehende. Wie zum Beispiel der Verein zur Förderung der Psychischen Gesundheit „Lichtung/Girasole“ am Heiligen Abend in Bruneck, um 16.30 vor der Ursulinenkirche. Beim nationalen Kongress von telefono amico 2010 in Bozen wurde betont, dass die beiden wichtigsten Anliegen der Anrufer Einsamkeit und Erschöpfung sind.
Hilfsbedürftige wissen um die Urlaube ihrer Helfer und Therapeuten und werden ängstlicher. Erste Hilfe-Stationen und psychiatrische Abteilungen füllen sich mit Menschen in Existenzkrisen, die manchmal auch in Drogen ertränkt worden sind, oder schwer erklärliche körperliche Symptome erzeugen.
Krisen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Veränderung einer Situation die Anpassungsfähigkeit eines Menschen übersteigt. Plötzliche Verluste oder Trennungen, unvorhersehbar aufgeflammte Konflikte in Zeiten verordneten Friedens sind häufige Auslöser. In der Krise erlahmt die Fantasie für mögliche Lösungen, Auswege werden schwerer gefunden, oder sind zu kräftezehrend, werden gar nicht mehr versucht. Vor allem leidet in der Krise die Kommunikation. Betroffene wähnen sich alleine und sehen keinen Wert mehr darin, sich anderen anzuvertrauen.
Hilfreich für Menschen in Krise ist die Nähe anderer und die Besprechung der Krise. Am Anfang extrem schwerer Krisen steht eine Schockphase, in der Betroffene gar nicht reagieren. Sie bleiben manchmal in der Gefahrenzone, zum Beispiel an einem Unfallort, stehen. Dann ist es wichtig, sie in Sicherheit zu bringen, sie zu wärmen, ihnen zu Trinken und zu Essen anzubieten – sie bemerken ihre eigenen Bedürfnisse kaum.
In der folgenden Reaktionsphase flammen intensive Gefühle auf, die auch widersprüchlich sein und Betroffene schwer unter Druck setzen können. Für Umstehende ist es wichtig, Gefühlsausbrüche wie Weinen und Schreien anzunehmen, ohne selbst in Panik zu geraten oder zu fliehen. Die Nähe der Erschütterten auszuhalten.
In der sogenannten Bewältigungsphase realisieren Betroffene verstandesmäßig, in welcher Lage sie sich befinden. Das ist der Augenblick des Gesprächs, der Begleitung. Fragen nach dem Entstehen und den Zusammenhängen der Krise sind wichtig, damit Betroffene zu einer für sie stimmigen Erklärung kommen. Auch wenn Geschichten von Schwierigkeiten immer wieder erzählt werden, fallen diese Erzählungen doch nie ganz genau gleich aus, und helfen, das Ereignis zu verarbeiten. Von Zuhörern wird da oft viel Geduld gefordert. Ganz allmählich können sie das Gespräch in Richtung Zukunft lenken. Dadurch werden immer eher und mehr mögliche Auswege besprochen, die auch immer realistischer werden. Die Neuorientierung setzt ein.
Angehörige, Freunde und Arbeitskollegen können Betroffenen beistehen. Unter Umständen steht aber niemand Bekanntes zur Verfügung, oder die Krise ist lebensgefährlich und zu schwer. Das ist der Augenblick, sich an das Psychologische Krisentelefon 800101800 zu wenden, das rund um die Uhr zur Verfügung steht, den Dienst habenden Hausarzt zu kontaktieren oder an den Krankenhäusern von Bozen, Meran, Brixen und Bruneck den Psychiatrischen Bereitschaftsdienst aufzusuchen. In äußerster Not hilft auf jeden Fall auch die Einheitliche Notrufnummer 112.
Ein Netzwerk von Expertinnen und Experten steht bereit, das die Öffentlichkeit mit hilfreichen Informationen versorgt, damit jede und jeder im Bedarfsfall auch sein eigener Krisenmanager sein kann. Und es auch zu Weihnachten und zu Neujahr wagt, sich ohne Schuldgefühle an andere um Hilfe zu wenden. In diesem Sinn kann auch die Website www.dubistnichtallein.it aufgesucht werden. Der Titel ist Programm.
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