"Psychologisches Netz weiter ausbauen und stärken"

Welttag der Suizidprävention: “Jeder kann helfen”

Freitag, 10. September 2021 | 08:01 Uhr

Von: luk

Bozen – Heute ist der Welttag der Suizidprävention. Mehrere Stimmen haben sich dazu in Südtirol zu dem ernsten Thema zu Wort gemeldet:

“Das Thema Selbstmord darf kein Tabu-Thema in unserer Gesellschaft sein: Sprechen wir darüber, setzen wir uns gemeinsam und vereint damit auseinander. Wir müssen mit unseren Jugendlichen einen offenen Dialog zum Thema führen: Kinder und Jugendliche sollen wissen, wo sie in einem schwierigen Moment Hilfe suchen können“, so die Kinder- und Jugendanwältin Daniela Höller anlässlich des Welttages der Suizidprävention.

Jedes Jahr findet am 10. September der Welttag der Suizidprävention statt. Dieses tragische und komplexe Phänomen hat gravierende Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Es wird geschätzt, dass sich in Südtirol im Durchschnitt jede Woche eine Person das Leben nimmt. Es handelt sich hierbei um ein Thema, mit dem man sich auseinandersetzen muss und dem man vorbeugen kann. „Auch junge Menschen können eine schwierige und dunkle Phase durchmachen und aus diesem Grund zu den so genannten Risikogruppen gehören. Die Covid-19-Pandemie und ihre Folgen – Isolation, Fernunterricht, mangelnde Sozialisation – stellten die jungen Menschen in den vergangenen eineinhalb Jahren auf eine harte Probe, insbesondere jene, die bereits vor der Pandemie an einer psychiatrischen Erkrankung litten“, führt die Kinder- und Jugendanwältin Daniela Höller aus, die auch Mitglied des landesweiten Netzwerkes für Suizidprävention ist. Die Zahlen sprechen für sich: In Italien haben die Abteilungen der Kinderneuropsychiatrie einen Anstieg der Selbstmordversuche von 30 Prozent auf 50 Prozent im Vergleich zur Zeit vor Covid verzeichnen können (Angabe der Zeitung L’Espresso vom 21.03.2021). Junge Menschen zeigten eine Vielzahl an Symptomen, von Reizbarkeit und Schlaflosigkeit über Angstzustände und Depression bis hin zu Selbstverletzung und Selbstmordversuchen.

Es gibt gewisse Verhaltensweisen, die jeder von uns in die Praxis umsetzen kann, um junge Menschen mit suizidalen Gedanken zu unterstützen. Man spricht hierbei von Erster Hilfe für die Psyche. „Zunächst einmal ist es wichtig, nicht den Blick abzuwenden, sich Zeit für Gespräche zu nehmen, aber vor allem zuzuhören, was uns Kinder und Jugendliche in Krisensituationen zu sagen haben. Selbst wenn unser Gegenüber kein Bedürfnis haben sollte, zu sprechen, kann ihm unsere bloße Anwesenheit und Nähe helfen, sich weniger einsam zu fühlen“, meint Höller.

Sie fährt fort: „Es ist wichtig, einen offenen Dialog zu führen und Sicherheit zu vermitteln, ohne dabei die Schwierigkeiten, welche uns anvertraut werden, zu verharmlosen oder Wertungen vorzunehmen. Verständnis und Empathie sollten die Schlüsselwörter sein, welche unser Verhalten lenken.“ Ein weiterer wesentlicher Punkt ist keine Versprechungen zu machen, die man nicht halten kann, da dies dem aufgebauten Vertrauensverhältnis schaden kann: „Wenn uns ein Mädchen oder ein Junge anvertraut, in einer Krise zu stecken und Selbstmordgedanken zu haben und uns darum bittet, mit niemandem darüber zu sprechen, sollten wir dem nicht zustimmen. Erklären wir den betroffenen Kindern und Jugendlichen stattdessen, dass uns ihr Wohl am Herzen liegt, dass wir uns um sie sorgen und ihnen nahe sein möchten, dass wir gemeinsam mit ihnen Hilfe suchen können. Wenden wir uns an den 24h-Telefonischen Beratungsdienst der vier Gesundheitsbezirke von Südtirol. In Fällen von akuter Gefahr erinnere ich auch daran, dass man die Notrufnummer 112 wählen kann,“ fügt die Kinder- und Jugendanwältin Höller hinzu.

Letzter, aber nicht weniger wichtiger Aspekt ist jener des persönlichen Schutzes. „Es ist nicht immer einfach, aber bei der Unterstützung einer Person, welche sich in einer Krisensituation befindet, ist es wichtig, auch die eigenen Grenzen zu erkennen und zu verstehen, was uns selbst dabei helfen kann, eine Situation von derartigem psychologischen Ausmaß bestmöglich zu bewältigen. Wir müssen unsere eigenen persönlichen Ressourcen im Auge behalten, sollten mit Freundinnen, Freunden und uns nahestehenden Menschen in Kontakt bleiben, Spaziergänge machen und Freizeitbeschäftigungen, die uns guttun, widmen“, so die Kinder- und Jugendanwältin.

Ladurner: “Psychologisches Netz weiter ausbauen und stärken”

Zum Welt-Suizid-Präventions-Tag fordert SVP-Landtagsabgeordnete Jasmin Ladurner das psychologische und psychiatrische Netz in Südtirol weiter auszubauen, um so der relativ hohen Suizidrate in Südtirol entgegenzuwirken.

In Südtirol nimmt sich im Durchschnitt ein Mensch pro Woche das Leben. In der Corona-Krise und vor allem nach der Aufhebung des Lockdowns ist die Zahl deutlich angestiegen. Besonders gefährdet sind Männer. Experten sehen diese Entwicklung als Folge verstärkter Unsicherheiten im Leben und zunehmender Einsamkeit. Die Sorgen beziehen sich dabei auf unsichere Gesundheit, mögliche wirtschaftliche Einbußen und vor allem die lange nicht mehr mögliche menschliche Nähe. Damit steigt bei vielen Menschen das Gefühl der Verzweiflung. Die WHO hat erst im Juli darauf hingewiesen, wie wichtig die psychische Gesundheit ist und wie sehr die psychosozialen Auswirkungen der Pandemie die Welt noch beschäftigen werden.

Ladurner sieht hier dringenden Handlungsbedarf: „Aufklärung und Sensibilisierung sind sehr wichtig. Es gilt die Themen Suizid und psychische Gesundheit zu Enttabuisieren und Betroffene rechtzeitig aufzufangen. Dafür gibt es bereits ein relativ gut ausgebautes Netz an Hilfsangeboten, gerade auch in der Präventionsarbeit. Aber wir brauchen noch mehr!“

In Südtirol kümmere sich der Sanitätsdienst um die Grundversorgung. In Österreich und Deutschland sei man davon abgegangen und setze mehr auf Konventionen mit privaten PsychologInnen und PsychotherapeutInnen. Um dieses Auffangnetz auch in Südtirol enger zu stricken, schlägt Ladurner vor, ebenso in diese Richtung zu gehen und als ersten Schritt die Hürden für angehende PsychologInnen zu verringern: „Für AbsolventInnen des Psychologiestudiums im Ausland sind die Anreize gering nach Südtirol zurückzukehren, weil sie für die Ausübung ihres Berufes in Südtirol zusätzlich noch eine Staatsprüfung ablegen müssen. Hier bräuchte es dringend eine Sonderregelung für Südtirol, wie es sie auch schon für das Medizinstudium gibt. Es muss alles unternommen werden, um das psychologische Netz noch weiter auszubauen und zu stärken, dazu gehört auch die personelle Aufstockung der psychologischen Angebote und eine bessere Strukturierung und Vernetzung der bestehenden Dienste.“

Notfallkärtchen

Zum Welttag der Suizidprävention hat die European Alliance Against Depression mit Rotary Südtirol die wichtige Initiative der Notfallvisitenkarten geplant.

Visitenkarten gehören zu den höflichsten Hilfsmitteln des Vorstellens. Die Europäische Allianz gegen Depression ist ein inzwischen weltweit gespanntes Netzwerk, das in Südtirol seit 2020 vom Gesundheitsbetrieb repräsentiert wird. Es fördert hilfreiche Aktionen, die vor Depression schützen, denn: 2030 wird die Depression laut WHO die bedeutsamste aller Krankheiten der Welt sein. Die Europäische Allianz gegen Depression hat eine neue Visitenkarte gebraucht, die das enthält, was immer wieder gegen Depression hilft: Möglichkeiten der Aussprache.

“Dazu hat sie einen edlen Sponsor gesucht. Alle Rotarier Südtirols stellen sich unter der Leitung der Präsidentin Isabelle Prinoth vom Club Brixen-Bruneck geschlossen hinter das Projekt und garantieren finanziell und ideell die Herstellung der „Notfallkärtchen“, wie sie unter Insidern genannt werden, und einer neu aufgelegten Broschüre mit dem Titel „Depression – was tun“ in zwei Sprachen. In einem zweiten Schritt geht es darum, die Visitenkarten so klug und kapillar zu verteilen, dass Notleidende sie in die Hände bekommen.

Dazu dient eine diskrete Verteilung durch alle Rotarier über die Clubs: Jedes Rotary-Mitglied erhält die Möglichkeit, zwei Kärtchen pausenlos mit sich zu tragen. Eines ist zum unauffälligen Weitergeben da, für Menschen, denen anonyme Gespräche helfen können. Das zweite ist für einen selbst da. Niemand weiß, wann er oder sie selbst in die Lage kommen, eben diesen Beistand zu benötigen. Und es ist ein Zeichen von Mündigkeit und Größe, das Schwinden der eigenen Kräfte zu bemerken und mit konkreter Hilfesuche zu beantworten.

In Südtirol sind es drei Hilfsorganisationen, die anonyme Telefonberatung für Menschen in Krise anbieten: Die Telefonseelsorge der Caritas, 0471 052052 rund um die Uhr deutschsprachig, telefono amico 02 23272327 täglich von 10.00 bis 24.00 Uhr italienischsprachig, und für Jugendliche Young and direct 0471 1551551 zweisprachig von Mo bis Frei, 14.30-19.30. Damit besitzen wir ein gut gestaffeltes, allerdings zeitlich optimierbares Netz an Anlaufstellen. Das Rückgrat des Ganzen ist die pausenlos erreichbare Telefonseelsorge für deutschsprachige Anrufer. Telefono amico hat eine ausgezeichnete, aber doch kleinere Gruppe Freiwilliger, und schafft das noch nicht, ist dafür staatsweit gut vernetzt. Als während des Lockdowns im Frühjahr 2020 auch die Telefonseelsorge nicht mehr ganzzeitig präsent sein konnte, weil Mitarbeiter ihre Häuser nicht mehr verlassen konnten, verdreifachten sich im Gegenzug die Anrufe bei der Notfallpsychologie und bei den psychologischen Diensten. Das war der Augenblick, als Südtirol die Telefonpsychologie entdeckte – bis heute sind wir davon nicht mehr losgekommen, die Tendenz zieht sich durch die gesamte Krisenzeit hindurch. Sie hat längst auch die Psychiatrien erfasst, wo vorwiegend telefonisch Langzeitkontakte auch zu schwer Kranken gehalten werden – es ist einfach hilfreich für Betroffene, wenn Psychiater und Psychologen ihre Patienten anrufen. Den Therapeuten verschafft das viel Mehrarbeit, oft sind die Patienten ja nicht leicht erreichbar, man muss wiederholt anrufen, manchmal ist die Verbindung schlecht und das Gespräch stockt.

Aber jeder bemühte Kontakt ist viel besser als gar keiner. Und jeder Kranke weiß sich aufgewertet, wenn der Arzt ihn aktiv sucht. Inzwischen haben sich auch in den Psychiatrien 20 bis 30 Prozent mehr Patienten angesammelt – gerade häufig über Telefonbehandlungen. Die Coronakrise hat immense Folgen im wirtschaftlichen Bereich, und noch einschneidendere im psychosozialen. Es ist deshalb sehr an der Zeit, auch die Fachdienste wieder zu entlasten, und Gesprächs- und Vertrauensanliegen, die nicht therapeutischer Natur sind, von den durch viele neue Patienten überlasteten Fachleuten wegzuhalten. Deshalb freut sich die Einsatzleitung PSYHELP für die psychische Bewältigung der Coronakrise ganz besonders, dass Rotary so aktiv ins Geschehen eingreift und die bekannten Notfallnummern neu verbreitet. Eine große zusätzliche Hilfe stellt dabei die Apothekerkammer dar. Sie hat beschlossen, die Notfallkärtchen an alle Apotheken Südtirols zu verteilen, damit sie auch dort aufliegen. Das ist gelebte diskrete Hilfeleistung. Fachleute gehen davon aus, dass die Apotheken in der Coronakrise zu den Gesundheitszentren erster Wahl geworden sind, in denen sich die Bevölkerung Rat und Hilfe niederschwellig gerne holt. Dort ist das Ansteckungsrisiko bei genauester Beachtung der Abstands- und Hygieneregeln auch gering, die Bearbeitung der Anliegen, ob Rat, Medikamente, Tests, Schul- oder Ergänzungsmedizin, sehr zügig und effizient. Wer Zweifel an der Kur seines Arztes hat, befragt den Apotheker – er ist das Gewissen der Medizin. Dorthin gehören auch Hinweise auf anonyme Hilfeleistung durch Gespräche”, so Roger Pycha, Direktor vom Psychiatrischen Dienst.

Bezirk: Bozen