Die Mutter eines Aussteigers erzählt

„Wir sind Ich bin“: Auch Südtiroler in den Fängen der Sekte

Donnerstag, 09. Mai 2024 | 08:12 Uhr

Von: mk

Bozen – Ihr Glaube ist ein Sammelsurium an Verschwörungstheorien. Rund 10.000 Mitglieder zählt die Sekte „Noièiosono“ in Italien, die in den vergangenen Monaten für Schlagzeilen gesorgt hat. Weil die Gruppierung den Staat und seine Gesetze ablehnt, kommt es immer wieder zu Problemen. Innerlich driften die Anhänger in eine komplette Parallelwelt ab und das Beunruhigende ist: Auch bei uns sind Menschen in die Fänge der Fanatiker geraten. Südtirol News hat die Mutter eines Aussteigers kontaktiert.

Wie die Frau erzählt, ist ihr Sohn über seine damalige Freundin zur Sekte gestoßen. Erst als er „Noièiosono“ den Rücken zukehrte, konnten ihn seine Angehörigen wieder in ihre Arme schließen. Doch bis dahin war es ein steiniger Weg.

Die „Wir sind Ich bin“-Sekte geriet das erste Mal ins Rampenlicht der italienischen Öffentlichkeit, als eine Frau, die in Roè Volciano westlich des Gardasees von der Lokalpolizei angehalten worden war, den verdutzten Beamten einen selbst fabrizierten „Führerschein“ vorlegte, den sie sich nach der Anleitung ihrer Sekte selbst ausgestellt hatte. Zwei weitere Anhänger der Sekte zeigten den Carabinieri von Provaglio d’Iseo bei Brescia hingegen „Universalpässe“, die die beiden mit ihrem eigenen Blut unterzeichnet hatten.

Das alles ist weit mehr als harmlose Spinnerei: Im Gegensatz zu den Reichsbürgern fielen die „Wir sind Ich bin“-Anhänger zwar bisher nie durch Gewalttaten auf, aber ihre Ablehnung jegliche Form von staatlicher Autorität schafft dennoch Probleme. Da aus ihrer Sicht jegliche Art von staatlicher Zugehörigkeit und Einflussnahme nichts anderes als eine „behördliche Bevormundung“ ist, glauben die Sektenmitglieder, weder Steuern zahlen zu müssen, noch andere Pflichten zu haben.

Die Folge ist: Carabinieri oder Gerichtsvollzieher tauchen bei ihnen zu Hause auf, um sie an die Einhaltung der Gesetze oder an die Begleichung unbezahlter Rechnungen zu erinnern. Werden die Mahnungen weiterhin ignoriert, droht den Anhängern, dass ihr Bankkonto, der Wagen und sogar die Wohnung gepfändet werden. Gefährdete Personen können auf diese Weise ihr ganzes Hab und Gut verlieren. Das alles geht mit der Entfremdung von Familienangehörigen, Freunden und Bekannten einher, die nicht zur Sekte gehören.

Ein halbes Jahr lief alles gut, doch dann…

Weil ihr Sohn glücklich über die Beziehung zu seiner Freundin schien, war es auch die Frau aus Südtirol. „Wir freuten uns anfangs alle sehr mit ihm und unterstützten die Beziehung“, erklärt die Mutter gegenüber Südtirol News. Die Partnerin ihres Sohnes sei oft bei ihnen zu Hause gewesen. Wie sich herausstellte, waren die Freundin und deren Familie überzeugte Corona-Leugner, während die Frau und ihre Familie die Impfung gegen Covid 19 befürworteten. Dennoch dachten sich die Eltern zunächst nichts dabei und wollten sich dem Glück ihres Sohnes nicht in den Weg stellen.

Rund ein halbes Jahr lang lief alles gut, doch dann begann sich der Sohn zu verändern. „Er wurde zunehmend gereizt, zog sich zurück. Er wurde uns fremd und wir begannen uns Sorgen zu machen“, erzählt die Mutter. Der Sohn ging zu dieser Zeit aber immer noch seinem Job nach. Eines Abends kamen die Eltern von der Arbeit nach Hause und sein Zimmer war leergeräumt. Er sei alles in Ordnung, er sei zu seiner Freundin gezogen, erklärte der Sohn. „Am nächsten Tag trafen wir uns noch einmal mit ihm und er sprach, als wäre er ein anderer. Das ist schwer zu erklären, er kam uns wie ferngesteuert vor und das blieb so in der folgenden Zeit“, berichtet die Mutter.

Ihr Sohn musste alle Kontakte abbrechen. „Es war die Hölle, hat sich beinahe schlimmer angefühlt, als ihn wirklich zu verlieren. Ich bin fast daran zerbrochen“, erzählt die Mutter. Nachdem er die Beziehung zu seiner Familie, aber auch zu seinem Freundeskreis gepappt hat, schmiss der junge Mann auch noch den Job hin. Der Mutter hat immer wieder versucht, ihren Sohn trotzdem zu erreichen. Doch die Begegnungen verliefen jedes Mal enttäuschend. „Wenn eine Antwort kam, dann immer voller Zurückweisung, Beschuldigungen, Angriffe, auch Anzeigen im Zusammenhang mit Covid.“

“Mein Sohn ist sehr feinfühlig. Das haben sie ausgenutzt!”

Ihr Sohn habe vor allem an die Liebe geglaubt, erzählt die Mutter. „Dafür hat er alles aufgegeben – so absurd das auch klingen mag. Er hörte immer dasselbe Gedankengut und dachte damals, das sei die Wahrheit.“ Er sei ein feinfühliger Mensch, der normalerweise zuerst an die anderen denke und dann an sich. Die Sekte habe die Pandemie und seine Gutgläubigkeit ausgenutzt und für ihre Zwecke missbraucht.

Die aggressive Art, mit der Sektenmitglieder vorgehen, um ihre Interessen durchzusetzen, findet in Zeiten großer Angst und Unsicherheit offenbar guten Nährboden. Die Anhänger beschreiben sich als „selbstbestimmte“ Menschen, die „staatliche Sklaverei“ ablehnen. Obwohl ihnen ständig Ärger von den Behörden droht, weil sie keine Steuern und Rechnungen bezahlen oder sich selbst Führerscheine basteln, merken sie nicht, dass es mit ihrer Freiheit nicht weit her ist. Auch das scheint Teil der Gehirnwäsche zu sein. „Mein Sohn hat uns erzählt, dass immer wieder Strafzettel gekommen seien, die sie einfach ignorierten. Sie sind untereinander vernetzt und helfen sich gegenseitig. Wenn es eng wird, ziehen sie weiter“, berichtet die Mutter.

Auch die Mitglieder der Sekte, mit denen der Sohn zu tun hatte, wollten irgendwann wegziehen. Gleichzeitig ist die Beziehung des Sohnes zu seiner Freundin zerbrochen. „Irgendwann erinnerte er sich daran, dass ich ihm im Laufe der Zeit stets aufs Neue beteuert hatte, dass er bei uns und in unseren Herzen immer einen Platz haben werde“, berichtet die Mutter. So schaffte er letztendlich seinen Ausstieg.

„Er kam zurück mit 55 kg bei einer Körpergröße von fast 180 Zentimetern und wir sind überglücklich“, erzählt die Mutter.

In den schweren Stunden hat sie sich auch Unterstützung geholt. „Ich war in Kontakt mit der Sektenberatung Südtirol, mit Psychologen und mit dem Forum für Prävention.“ Auch Menschen in ihrer näheren Umgebung hätten sie durch diese fürchterliche Zeit „getragen“.

Trotzdem sind Spuren geblieben. „Wir als Familie sind gewachsen. Für keinen von uns wird die Zeit, die wir miteinander haben, jemals wieder selbstverständlich sein. Ich wünsche niemandem, dass ihm sein Kind auf diese Weiße entrissen wird“, erklärt die Mutter.

Bezirk: Bozen