Von: ka
Alzano Lombardo – In einem dramatischen Interview via Skype schildert der Inhaber der Apotheke „San Martino“ von Alzano Lombardo, Andrea Raciti, gegenüber dem „Corriere della Sera“ die dramatischen Anfänge der Coronavirusepidemie im zu trauriger Berühmtheit gelangten Infektionsherd in der Val Seriana. Dabei wird auch verständlich, welche Fehleinschätzungen und Nachlässigkeiten bei Beginn der Epidemie begangen wurden. „Sie hielten mich für verrückt, heute weinen wir heimlich“, so das traurige Fazit von Andrea Raciti.
ALZANO LOMBARDOLate in the afternoon, there is no one around. Only the employees of funeral parlours, with their…
Pubblicato da Francesca Borri su Mercoledì 11 marzo 2020
Die Apotheke „San Martino“ von Alzano Lombardo befindet sich genau vor jenem Bezirkskrankenhaus, in dem am vergangenen 23. Februar die ersten zwei Coronavirusfälle entdeckt wurden. Trotz der beiden Covid-19-positiv getesteten Personen wurden keine entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen ergriffen und das Krankenhaus wenige Stunden nach seiner vorläufigen Schließung wiedereröffnet. Ständig offen hingegen blieb die Apotheke von Andrea Raciti. Die Apotheke wurde von Patienten, die über hohes Fieber und Bindehautentzündung klagten und eigentlich die Notaufnahme aufsuchen wollten, regelrecht überrannt. „Sie kamen alle aus Nembro, dem Infektionsherd des Virus, und waren rund 40 Leute. Wir sind die Einzigen gewesen, die sich schon damals mit Handschuhen und Gesichtsmasken geschützt haben, was uns vermutlich vor der Ansteckung gerettet hat“, erinnert sich Andrea Raciti.
Farmacie in prima linea ma lasciate sole: Andrea Raciti di Alzano Lombardo: «Mi prendevano per pazzo, ora contiamo i colleghi contagiati e morti» @corriere https://t.co/c481ffq5bb
— Maria Silvia Sacchi (@MSilviaSacchi) March 23, 2020
In den folgenden Tagen passierte nichts, was zur Eindämmung der Epidemie beigetragen hätte. Heute gehört Alzano Lombardo zu jenen Gemeinden der Lombardei, in denen die meisten Coronavirus-Toten verzeichnet wurden. Besonders dramatisch wird die Schilderung des 45-jährigen Apothekers, als er die schlimmste Nacht seiner langjährigen Berufslaufbahn beschreibt. Am Sonntag, den 8.März hatte er Nachtdienst. Von 19.00 Uhr am Abend bis 9.00 Uhr am nächsten Morgen erhielt Andrea Raciti insgesamt 42 Anfragen für Sauerstoff, von denen er aufgrund des Fehlens der lebensrettenden Sauerstoffflaschen keine erfüllen konnte. „Ich bekam 42 Anfragen für Sauerstoff und hatte keine einzige Flasche mehr. Mit Worten „wie soll ich mit meinem Mann, meinem Opa, meinem Vater tun, …bitte hilf mir“ flehten sie mich an, aber ich wusste nicht mehr, was ich ihnen antworten sollte. Ich hatte keine Möglichkeit, ihnen zu helfen. Wahrscheinlich sind diese Menschen alle gestorben“, so ein zutiefst bedrückter Andrea Raciti.
#tagada #Coronavirus, il farmacista Andrea Raciti: "La notte dell'8 marzo abbiamo ricevuto 42 richieste per bombole di ossigeno, ne avevamo zero e abbiamo dovuto dire no" https://t.co/zj5lq9QZfN
— La7 (@La7tv) March 25, 2020
Andrea Raciti erinnert sich auch daran, dass viele ihn im Dorf für verrückt hielten, weil er als einer der ersten auf weiter Flur in seiner Apotheke die Benutzung von Handschuhen, Gesichtsmasken und eine strikte Zugangskontrolle durchgesetzt hatte. Aber ganz besonders ärgerlich findet der Apotheker das Verhalten vieler Menschen, die in einer Zeit, als in der Lombardei bereits die ersten 40 Corona-Toten zu beklagen waren, weiterhin ihren Freizeitaktivitäten nachgingen. Aber – so Andrea Raciti – konnte man ihnen das kaum übel nehmen, weil selbst noch wenige Tage vor der endgültigen „Schließung“ der Lombardei am 8. März kein Geringerer als der Bürgermeister von Bergamo, die Familien dazu einlud, das Stadtzentrum zu besuchen, um mit ihrem Geld die Wirtschaft zu unterstützen.
Heute – fügt der 45-Jährige hinzu – sind die Apotheken zusammen mit den Tabaktrafiken und den Supermärkten die einzigen Betriebe, die für ihre Kunden noch geöffnet halten dürfen. Zugleich besitzen die Apotheken, die seit der Schließung vieler Hausarztpraxen und ärztlicher Bereitschaftsdienste für die Patienten heute im Kampf gegen die Coronavirusepidemie an vorderster Front stehen, nur über unzureichende Mittel, diese Aufgabe auch zu erfüllen.
Zuletzt senkt sich der Blick von Andrea Raciti. Dann spricht er über seine Tochter, die er derzeit nur mehr über WhatsApp sieht, und über die nicht geringe Anzahl von Apothekerkollegen, die dem Coronavirus bereits zum Opfer gefallen sind. „Dort, wo ich arbeite, weinen wir alle heimlich. Um die Moral hochzuhalten, versuchen wir, uns nicht gegenseitig dabei zu ertappen. Aber die Lage ist wirklich schwierig und die Leute haben noch immer nicht verstanden, dass sie zu Hause bleiben müssen“, abschließend ein nachdenklicher Andrea Raciti.