Von: ka
Bergamo – Seit Bergamo und ganz besonders die nördlich der Stadt liegende Val Seriana während der ersten Welle der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 ihre dunkelsten Tage erlebt haben, rätseln viele Mediziner und Wissenschaftler, warum ausgerechnet in diesem Teil Italiens so viele Menschen dem Virus zum Opfer gefallen sind.
Bisher wurde die gemessen an der Gesamtbevölkerung hohe Anzahl von Ansteckungen und Todesopfern mit zu späten und wenig entschlossenen Handeln der Behörden sowie mit einer fatalen Unterschätzung der pandemischen Lage – insbesondere in den Krankenhäusern – erklärt, aber einer großangelegten medizinwissenschaftlichen Studie zufolge soll ein weiterer Faktor einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Verbreitung des Coronavirus und die Schwere der Krankheit genommen haben.
Laut einer medizinischen Studie des Instituts Mario Negri, an der 9.773 Einwohner von Bergamo und der Val Seriana teilnahmen, begünstigten Gene, die vom Neandertaler stammen und über viele Generationen bis zum heutigen Menschen weitervererbt wurden, die „Katastrophe von Bergamo“. Forscher bezeichnen diese neue wissenschaftliche Erkenntnis als „außergewöhnliche Entdeckung“.
Das Vorhandensein von Genen, die auf den Neandertaler zurückgehen, spielten laut der medizinwissenschaftlichen Studie mit dem Namen Origin, die am Donnerstag in Mailand vorgestellt wurde, bei der Verbreitung von Covid-19 in Bergamo und der Val Seriana eine wichtige Rolle.
Bei Origin handelt es sich um eine ausgedehnte Bevölkerungsstudie, in der die Forscher des Instituts Mario Negri in den letzten zwei Jahren den Zusammenhang zwischen genetischen Faktoren und dem Schweregrad der Covid-19-Erkrankung in der Provinz Bergamo, dem Epizentrum der Pandemie, analysierten und die Zusammenhänge auswerteten. Die in der Fachzeitschrift iScience veröffentlichte Studie zeigt, dass eine bestimmte Region des menschlichen Genoms in signifikantem Zusammenhang mit dem Risiko steht, an Covid-19 zu erkranken und bei den Bewohnern der am stärksten von der Pandemie betroffenen Gebiete eine schwere Form der Erkrankung auszulösen.
„Das Sensationelle ist, dass drei der sechs Gene, die mit diesem erhöhten Krankheits- und Sterberisiko in Verbindung gebracht werden, von den Neandertalern auf die moderne Bevölkerung übertragen wurden, insbesondere vom Vindija-Genom, das 50 000 Jahre alt ist und in Kroatien gefunden wurde. Es mag die Neandertaler einst vor Infektionen geschützt haben, doch jetzt verursacht es eine überschießende Immunreaktion, die uns nicht nur nicht schützt, sondern uns auch schwereren Krankheitsverläufen aussetzt. Die Anzahl der Opfer des Neandertaler-Chromosoms könnte global rund eine Million Menschen betragen und mangelns anderer Ursachen könnten sie aufgrund dieser genetischen Veranlagung gestorben sein“, erklärt der Direktor des Instituts Mario Negri, Giuseppe Remuzzi.
An der Studie nahmen insgesamt 9.773 Personen aus Bergamo und der Val Seriana teil. Die Teilnehmer füllten einen Fragebogen aus, der Fragen zur klinischen und familiären Krankengeschichte in Bezug auf Covid-19 beinhaltete. 92 Prozent der Studienteilnehmer, die an Covid-19 erkrankt waren, gaben an, dass sie sich vor Mai 2020 infiziert hatten, wobei bei zwölf Personen die ersten Symptome der Krankheit bereits im November oder Dezember 2019 aufgetreten waren.
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— David Carretta (@davcarretta) March 14, 2020
Aus dieser großen Stichprobe wurden 1.200 Teilnehmer ausgewählt, die alle aus Bergamo oder der Provinz Bergamo stammen. Anhand von bestimmten Merkmalen und Risikofaktoren wurden sie in drei homogene Gruppen eingeteilt. Während die erste Gruppe von 400 Personen gebildet wurde, die an einer schweren Form der Krankheit erkrankt waren, bestanden die zweite und die dritte Gruppe beide ebenfalls aus 400 Personen, die jeweils nur einen leichten Krankheitsverlauf gezeigt oder sich nicht mit dem Virus angesteckt hatten.
Bei Personen, die an einer schweren Form von Covid-19 erkrankt waren, war die Wahrscheinlichkeit höher, dass Verwandte ersten Grades an Covid-19 gestorben waren, als bei Teilnehmern, die nur leichte Krankheitsformen gezeigt oder sich gar nicht erst mit dem Coronavirus infiziert hatten. Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass genetische Faktoren den Schweregrad der Krankheit mitbestimmten.
Es folgte eine ausgedehnte Laboranalyse. Die den Teilnehmern abgenommenen DNA-Proben wurden mithilfe des technischen Verfahrens DNA-Microarray analysiert. Dank dieses technologischen Verfahrens können Hunderttausende von Variationen, Polymorphismen, des gesamten menschlichen Genoms abgelesen werden, was es erlaubte, für jeden Probanden etwa neun Millionen genetische Varianten zu analysieren und so jene DNA-Region zu ermitteln, die für die verschiedenen Erscheinungsformen der Krankheit verantwortlich ist.
Dabei entdeckten die Forscher, dass in der Region um Bergamo und in der Val Seriana sieben Prozent der italienischen Bevölkerung eine Reihe von Nukleotidvariationen aufweist, die zusammen vererbt werden und einen Haplotyp bilden.
„Die Ergebnisse der Origin-Studie zeigen, dass Personen, die dem Virus ausgesetzt waren und den Neandertaler-Haplotyp besitzen, ein mehr als doppelt so hohes Risiko hatten, eine schwere Covid-19-Erkrankung in Form einer Lungenentzündung zu entwickeln, als Personen, denen dieser Haplotyp nicht vererbt worden war. Das Risiko, intensivmedizinisch behandelt werden zu müssen, war laut der Studie sogar dreimal so hoch und jenes, mechanisch beatmet werden zu müssen, noch höher“, unterstreicht die Leiterin des Zentrums für Humangenomik am Institut Mario Negri, Marina Noris.
Diese Anfälligkeit soll insbesondere mit dem Vorhandensein von drei der sechs Gene in dieser auf Chromosom 3 gelegenen Region zusammenhängen. Es handelt sich um die Gene CCR9 und CXCR6, die für die Anlockung weißer Blutkörperchen und für die Entzündung während der Infektion verantwortlich sind, sowie um das Gen LZTFL1, das die Entwicklung und Funktion der Epithelzellen in den Atemwegen reguliert, wobei es die verschiedenen Erscheinungsformen der Krankheit beeinflusst. Es ist allerdings noch unklar, welches Gen die wichtigste Rolle spielt.
Mediziner und Forscher bezeichnen die Erkenntnisse der medizinwissenschaftlichen Studie Origin als bahnbrechend. Bisher wurden genetische Einflüsse lediglich vermutet, konnten aber bis zu dieser Studie kaum nachgewiesen werden.