Von: ka
Rom – Die Covid-19-Epidemie beginnt außer Kontrolle zu geraten. Ein Symptom für diese Hiobsbotschaft ist, dass angesichts der rasant steigenden Zahlen der Neuinfektionen es praktisch unmöglich ist, alle Kontaktpersonen der Neuinfizierten zu erfassen, sie zu testen und bei Bedarf in die Quarantäne zu schicken. Dies führt zu einem „Teufelskreis“ aus exponentiell zunehmenden Neuinfektionen und immer weniger ausgeforschten Kontaktpersonen, die im Falle einer Infektion ihrerseits die Ansteckungskurve weiter ansteigen lassen. In der Folge gerät die Coronaepidemie außer Kontrolle.
In verschiedenen Regionen Italiens ist die Kontaktpersonennachverfolgung bereits heute gescheitert. Da in Italien wöchentlich inzwischen 40.000 bis 50.000 Neuansteckungen mit dem Coronavirus gezählt werden, wurden in mehreren großen italienischen Regionen die Kapazitätsgrenzen des Test- und Kontaktpersonennachverfolgungssystems, die für eine Kontrolle der Epidemie unerlässlich sind, bereits überschritten. Erste Regionen wie beispielsweise die Lombardei geben unumwunden zu, dass die Kontrolle über dem Epidemieverlauf verloren wurde.
In der lombardischen Metropole Mailand ist die Not groß. „Wir sind nicht mehr imstande, die Kontakte der Neuansteckungen nachzuverfolgen und die betreffenden Personen selbst in die Quarantäne zu schicken. Wer den Verdacht hat, in Kontakt mit einem Corona-Positiven oder einer Risikoperson getreten zu sein, möge sich in die häusliche Isolation begeben“, so der Direktor des Gesundheitsbezirks von Mailand, Vittorio Demicheli.
Andrea Crisanti findet in dieser Hinsicht deutliche Worte. „Würde die App Immuni perfekt funktionieren und hätten 90 Prozent der Italiener sie heruntergeladen, würde sie heute bei 10.000 bis 12.000 Neuansteckungen am Tag täglich zwischen 150.000 und 200.000 Alarme und Mitteilungen aussenden. Es ist klar, dass dies kein System bewältigen kann. Mit unserer Kapazität verlieren wir bereits bei täglich 1.500 bis 2.000 Fällen die Fähigkeit, alle Kontakte der Positiven zurückzuverfolgen. Ist einmal die Grenze überschritten, funktioniert nichts mehr. Die Lombardei war so ehrlich, es auch zuzugeben“, so das traurige Fazit von Andrea Crisanti.
Der bekannte Mikrobiologe der Universität von Padua gilt seit seiner Funktion als Berater der venezianischen Regierung während der Corona-Notlage als hauptverantwortlich dafür, dass im Gegensatz zur Lombardei in Venetien ein Corona-Desaster verhindert werden konnte. Unter seiner Leitung wurden in Venetien die Bewohner ganzer Dörfer sowie alle Kontaktpersonen von positiv Getesteten einem Corona-Test unterzogen. Dies erwies sich als richtige Entscheidung, weil so Infektionsketten rechtzeitig unterbrochen und asymptomatische Covid-19-positive Personen zeitnah entdeckt und umgehend unter Quarantäne gestellt werden konnten. Zudem gelang es auf diese Art und Weise, Corona-Patienten im Frühstadium der Krankheit zu therapieren, was die Krankenhäuser wesentlich entlastete. Diese erfolgreiche Strategie, die Coronapandemie zu bekämpfen, ist heute weitgehend gescheitert.
Unter anderem ist die Lombardei heute gezwungen, eine Sperrstunde einzuführen. Diese Maßnahme gilt Expertenstimmen zufolge gleich wie der Lockdown als „Verzweiflungstat“. Die Probleme der Lombardei betreffen aber auch andere Regionen. Zu diesen gehört auch Apulien. Auch in der süditalienischen Region ist die Kontaktpersonennachverfolgung praktisch am Ende der Fahnenstange angelangt. Da inzwischen zu viele Personen bis zu zehn Tage auf einen Corona-Test warten müssen und erst mit einem positiven Testergebnis die Kontaktverfolgung beginnen kann, besteht auch in Apulien die Gefahr, dass die Epidemie außer Kontrolle gerät.
Eine der Hauptursachen ist das fehlende Personal. Laut durchgesickerten Informationen sind in den italienischen Regionen derzeit nur rund 9.000 „Kontaktverfolger“ verfügbar. Bei diesen handelt es sich um Angestellte, die damit beschäftigt sind, die Kontaktpersonen von Neuinfizierten telefonisch zu verständigen, sie in ein Register einzutragen und für sie gegebenenfalls eine häusliche Quarantäne anzuordnen. Trotz finanzieller Fördermittel wurden zwischen Juni und Oktober in ganz Italien lediglich 275 Kontaktverfolger neu angestellt. Laut mehreren angesehenen Virologen und Epidemiologen wurden zudem die Monate seit dem späten Frühjahr nur unzureichend zum Ausbau der Test- und Kontaktnachverfolgungskapazitäten genutzt.
Am Montag erreichte der Prozentsatz der positiven Abstriche die Schwelle von neun Prozent. Um eine Epidemie unter Kontrolle zu erachten, dürfte dieser Prozentsatz höchstens bei fünf Prozent liegen.
Mehreren Experten zufolge gilt die Schlacht um „Testen und Kontaktpersonen nachverfolgen“ bereits als verloren. Angesichts der weitgehend gescheiterten Strategie, „Covid-19 zu kontrollieren“, stehen nun nur mehr harte Eindämmungsmaßnahmen wie die Sperrstunde und – immer als letzte Konsequenz – der Lockdown im Raum.