Von: ka
Neapel – Alessandra Accardo hat die schrecklichsten Momente ihres Lebens durchgestanden. Als ein 23-jähriger Mann mit einem Stein auf sie einprügelte und dann über sie herfiel, glaubte die junge Polizistin aus Neapel, dass sie den brutalen Angriff nicht überleben würde. Nach dem schrecklichen Gewaltverbrechen lag die junge Frau im Krankenhaus. Um sich vom Verbrechen einigermaßen zu erholen, brauchte sie drei Monate. Alessandra Accardo wollte sich aber nicht verstecken. „Ich beschloss, mein Gesicht zu zeigen und darüber zu sprechen, was mir widerfahren war. Man muss den Opfern mit Respekt zuhören. Das Teilen des Schmerzes hilft einem selbst und anderen“, so die neapolitanische Polizistin.
Als anlässlich des Internationalen Aktionstags gegen Gewalt an Frauen am 25. November in Italiens Städten Hunderttausende von Menschen für einen besseren Schutz der Frauen vor Gewalt demonstrierten, war auch Alessandra Accardo mit dabei. Als die Namen der Frauen, die seit Beginn des Jahres Opfer von Femiziden geworden waren, verlesen wurden, dachte die junge Polizistin daran, dass auf einer solchen Liste auch ihr Name stehen könnte.
Die Tat geschah in der Nacht vom 19. auf den 20. Oktober 2022. Die junge Polizistin der Quästur von Neapel war nach der Beendigung ihres Turnusdienstes unterwegs zu ihrem Auto, als sie von einem 23-jährigen Mann aus Bangladesch, der auf dem Parkplatz auf ein Opfer gewartet hatte, überfallen wurde. „Ich erinnere mich noch daran, wie er den Zeigefinger vor seinen Mund hielt und mir sagte, dass ich still sein solle“, erzählt Alessandra Accardo. Der Unbekannte griff die junge Frau sofort an.
„Ich spürte keinen Schmerz. Er schlug mich mit einem Stein, den er auf dem Boden gefunden hatte. Immer wieder prügelte auf mich ein. Er schlug meinen Kopf auf den Boden und zog mich so stark an den Haaren, dass ich ganze Strähnen davon verlor. Ich blutete aus dem Gesicht und aus einem Ohr. Weil er mich vom Parkplatz in einen kleinen Raum geschleift hatte, hatte ich auch aufgerissene Knie. Aber ich wollte überleben und – ich schwöre es – ich spürte keine Schmerzen. Alles, woran ich denken konnte, war, wie ich atmen sollte. Er würgte mich, irgendwann sah ich alles schwarz, ich war am Ersticken. In den wenigen Augenblicken, in denen er seinen Griff lockerte, fragte ich ihn mit leiser Stimme: ‚Wenn du mich vergewaltigen willst, warum bringst du mich dann um?‘ Aber er war wie von Sinnen. Ich war überzeugt, dass ich dort sterben würde. Nachdem er das bekommen hatte, was er wollte, ließ er von mir ab und ging“, beschreibt Alessandra Accardo gegenüber einer Journalistin des Corriere della Sera die vielleicht schlimmsten 20 Minuten ihres Lebens.
Der 23-jährige Mann aus Bangladesch konnte wenige Stunden nach der Tat von der Polizei gestellt und festgenommen werden. Im März 2023 wurde er in einem verkürzten Verfahren wegen sexueller Nötigung und versuchten Mordes zu 14 Jahren Haft verurteilt. „Als die Richter auf den Fotos sahen, wie er mich zugerichtet hatte, begannen sie zu weinen“, so die junge Polizistin.
Während ihr Peiniger in Untersuchungshaft saß, lag die junge Frau im Krankenhaus. „Im Auge hatte ich einen Bluterguss und die Risswunde auf der Stirn musste mir genäht werden. Einige Narben werden mir für immer bleiben und auch die Wunden an meinen beiden Knien sind noch immer sichtbar. Aber ich habe keine Angst mehr“, so Alessandra Accardo.
Die ersten Tage nach dem brutalen Sexualverbrechen waren für Alessandra Accardo besonders schlimm. „Weil ich Zweige, Dreck und üble Gerüche in den Haaren hatte, kämmte ich mir immer wieder die Haare. Um nicht meine Wohnung zu beschmutzten, kämmte ich mich im Garten. Besucher, die mich umarmen wollten, stieß ich manchmal weg. Ich wollte nicht, dass sich sein Gestank auf sie überträgt. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn loswurde. Aber in gewisser Weise hat mich das ‚Danach‘ auch gestärkt“, erinnert sich Alessandra Accardo an die ersten Tage nach der Tat. Um sich vom Verbrechen einigermaßen zu erholen, brauchte sie drei Monate.
Alessandra Accardo wollte sich aber nicht verstecken. „Ich beschloss, mein Gesicht zu zeigen und darüber zu sprechen, was mir widerfahren war. Man sollte den Opfern mit Respekt zuhören. Das Teilen des Schmerzes hilft einem selbst und anderen“, so die neapolitanische Polizistin.
Alessandra Accardo spricht auf Veranstaltungen von Organisationen und Vereinen, die weiblichen Gewaltopfern Unterstützung anbieten. „Heute bin ich eine glückliche Frau. Ich habe einen Partner, der mich liebt und den ich liebe. Ich arbeite auch wieder als Polizistin und wie früher treibe ich auch wieder Sport. Ich habe mir mein Leben zurückerobert und versuche, anderen mit meiner Botschaft zu helfen“, erzählt die junge Polizistin. Die Erinnerung an die erlittene Gewalt lässt sie manchmal aber nicht los. Wenn im Fernsehen die Rede auf ermordete Frauen kommt, fühlt sie sich richtig schlecht. „Ich rede dann mit mir selbst und bin sehr wütend“, so die junge Frau.
Über das Strafmaß von 14 Jahren Haft für den Täter will sie nicht urteilen. „Für jedes Opfer wird die Haftstrafe, die der Täter bekommt, immer zu gering sein. Als Polizistin vertraue ich aber der Arbeit der Richter. Das reicht mir“, erklärt Alessandra Accardo.
Dann schweifen ihre Gedanken wieder zu dieser schrecklichen Nacht zurück. „Jetzt gehe ich und dann du‘“, schrie er mich an, nachdem er das bekommen hatte, was er wollte. Nach der Gewalttat besaß er sogar noch die Frechheit, mich auch noch auf diese Art und Weise zu erniedrigen. Aber der Unterschied zwischen mir und ihm ist, dass ich lebe und glücklich bin. Er hingegen ist es sicherlich nicht mehr“, schließt Alessandra Accardo.
Ihre Aufgabe sieht die junge Polizistin heute darin, anderen Frauen, die Opfer brutaler Verbrechen wurden, mit ihrer Botschaft Mut zu geben.