Von: ka
Vigonovo – Nach dem grausamen Mord an Giulia Cecchettin aus Vigonovo bei Padua steht ganz Italien unter Schock.
Viele Italiener fragen sich, was ihren Ex-Freund Filippo Turetta dazu gebracht hat, die junge Frau zu ermorden und zu fliehen. Der bekannte Psychiater und Soziologe Paolo Crepet, der auch Autor vieler Bücher über die heutige Jugend ist, wagt einen Erklärungsversuch. „Es war kein Wutanfall. Man muss die Zeichen erkennen, man wird nicht über Nacht zum ‚Wolf‘“, so Paolo Crepet gegenüber der römischen Zeitung Il Messaggero.
Als Paolo Crepet nach seiner Meinung über den grausamen Mord an Giulia Cecchettin gefragt wird, stellt er zunächst klar, dass er, da er den mutmaßlichen Mörder Filippo Turetta nicht kenne, daher keine Diagnose wagen werde. In einem Punkt ist sich der Psychiater, Soziologe und Autor zahlreicher Bücher über Jugendliche allerdings sehr sicher. „Ich glaube nicht, dass alles in dieser Nacht begonnen hat, es war kein Raptus. Den plötzlich auftretenden Wutanfall findet man fast nur in den Comicheften“, meint Paolo Crepet.
Die Aussagen von Freunden und Bekannten von Filippo Turetta, dass der mutmaßliche Täter immer noch in Giulia verliebt gewesen sei, weist der Psychiater und Soziologe mit Entschiedenheit zurück. „In diesem Zusammenhang würde ich das Wort ‚verliebt‘ wirklich nicht verwenden. Die Vorstellung, dass eine junge Frau wie ein Motorrad ist, ein Stück Eigentum, hat nichts mit Verliebtheit zu tun. Das ist eine Vorstellung wie aus dem Mittelalter“, meint Paolo Crepet, der in dieser Frage sich mit vielen anderen Experten, die glauben, dass Filippo Turetta Giulia Cecchettin als seinen „Besitz“ betrachtet habe, einig ist. Wie gemeinsame Freunde sowie die Schwester der Ermordeten, Elena Cecchettin, später berichteten, hatte sie der junge Mann, der als besitzergreifend und stark eifersüchtig beschrieben wird, ihr Smartphone kontrolliert und sie bis zu 40 Mal am Tag angerufen. Selbst nach dem Ende der Beziehung hatte sich Filippo Turetta als „Freund“ immer wieder in ihr Leben eingemischt.
Paolo Crepet weist darauf hin, dass das blutige Verbrechen nicht in einem von Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Verwahrlosung geprägten Milieu geschah, was bedeutet, dass die Ursache des Problems viel tiefer liegt. „Der Mord ist in Venetien, in einer der produktivsten und reichsten Gegenden des Landes, und nicht in einem Vorort in Süditalien verübt worden. Aus diesem Grund kann die Bluttat nicht mit dem üblichen Gerede über die soziale Herkunft abgetan werden. Es ist der Beweis dafür, dass Gewalt und Vorurteile gegen Frauen nichts mit dem zu tun haben, was einige Soziologen über soziale Umfelder sagen“, fährt Paolo Crepet fort.
„Hier sind wir im Herzen des Nordostens. Kleine Villen und gepflegte Gärten prägen das Landschaftsbild, es ist eine heile Welt, die wir für privilegiert und für glücklich halten. Manchmal ist aber das Gegenteil der Fall. Das Geld ist da, aber das Glücklichsein fehlt. Im ganzen Land befinden sich junge Leute, die Gefühle nicht voneinander zu unterscheiden vermögen. Wie kann man von Liebe sprechen, wenn man eine junge Frau 40 Mal anruft?“, fragt sich der bekannte Psychiater und Jugendbuchautor.
Femminicidio di Giulia Cecchettin, si fa strada l'ipotesi della premeditazione
Femminicidio di Giulia Cecchettin, si fa strada l'ipotesi della premeditazioneQuando è stata gettata in un canalone da Filippo Turetta, Giulia Cecchettin probabilmente era già morta. Sul cadavere i segni di almeno venti profonde coltellate: al collo, alla testa e alle braccia, indizio di un tentativo di difesa.L'inviato Alvise Losi per il Tg3 delle 14:15 del 19 novembre 2023
Posted by Tg3 on Sunday, November 19, 2023
Der Soziologe betont, dass es gerade die Eltern sind, die während der Erziehung viele Fehler begehen. „Wenn sie ihre Kinder immer zu rechtfertigen versuchen, begehen sie einen schweren Fehler. Wenn es in der Schule schlecht läuft, heißt es, oh die Ärmsten. Wenn ihre Sprösslinge eine schlechte Note bekommen, geben sie dem Lehrer die Schuld, und wenn sie nicht das Klassenziel erreichen, ziehen die Eltern vor Gericht. Wir haben Kinder geschaffen, die keine Frustrationen und keine Niederlagen mehr kennen und noch weniger ertragen können. Im Gegensatz zu früheren Generationen wissen sie nicht mehr, dass es auch Misserfolge und Fehlschläge gibt. Ich sage das schon seit 30 Jahren. Die Schule sollte allein den Schülern und deren Lehrern gehören und ein Ort sein, den Eltern nicht einmal betreten sollten. Das allein wäre schon eine Revolution“, legt Paolo Crepet den Finger in die Wunde.
Auf die Frage, wie groß der Einfluss der sozialen Medien sei, hat der Psychiater und Jugendbuchautor eine eindeutige Antwort. „Ihr Einfluss ist gewaltig. Ich habe eine Studie über die Beziehung zwischen den sozialen Medien und der Generation Z begleitet. Es hat sich herausgestellt, dass das, was die jungen Leute am meisten fürchten, das „Ghosting“ ist. Sie können es nicht verkraften, dass jemand, mit dem sie bis vor wenigen Minuten gechattet hatten, plötzlich verschwunden ist. Das hat es in einer anderen Form auch vor dem Aufkommen der Socials gegeben, aber es ist früher nicht ein Drama gewesen“, so Paolo Crepet.
Die Gabe, ein Nein anzunehmen und daraus zu lernen, so könnte das Fazit des Soziologen und Psychiaters lauten, scheint vielen jungen Leuten – darunter leider besonders vielen jungen Männern – abhandengekommen zu sein, was zur Folge hat, dass für junge Frauen gerade das Ende von Beziehungen viele Gefahren birgt.
Il padre di Giulia: "Ragazze, denunciate. così avrete salva la vita"
Il padre di Giulia: "Ragazze, denunciate. così avrete salva la vita"Gino ed Elena Cecchettin, padre e sorella di Giulia, parlano per la prima volta dopo la conferma della morte della ragazza e l'arresto di Filippo Turetta: "Piangere non serve a nulla. Dobbiamo proteggere le ragazze del futuro e le ragazze del presente". L'inviato Massimo Veneziani per il Tg3 delle 19 del 19 novembre 2023
Posted by Tg3 on Sunday, November 19, 2023
In Vigonovo ist die Trauer groß. „Als Frau ist man in Italien nirgends sicher, es gibt keine Männer, denen man vertrauen kann. Alle 72 Stunden wird eine Frau ermordet. Es ist die Bilanz eines gescheiterten Staates, der nicht in der Lage ist, seine Töchter zu schützen und seine Söhne zu erziehen“, so lautet eine der Antworten auf den Instagram-Eintrag, den Elena Cecchettin ihrer ermordeten Schwester widmet.