Von: ka
Saporischschja/Mala Tokmatschka/Tokmak/Ukraine – Eine erschütternde Reportage, in der mehrere Soldaten, die in den ersten Tagen der ukrainischen Gegenoffensive an den Angriffen teilnahmen, zu Wort kommen, beschreibt die tödlichen Schwierigkeiten, mit denen die ukrainischen Soldaten zu kämpfen haben.
Besonders der 7. Juni, als die ukrainische Armee vergeblich versuchte, beim Dorf Tokmak in Richtung Melitopol die russischen Stellungen zu überwinden, gilt als der wohl schwärzeste Tag der ukrainischen Gegenoffensive.
Ein Journalist des Corriere della Sera, Lorenzo Cremonesi, fing die dramatischen Erzählungen der Soldaten, die den Angriff überlebten, ein. „Wir sind zu langsam. Minen, Drohnen und Blut – die Strategie muss geändert werden“, so der Tenor der ukrainischen Infanteristen.
„Am 7. Juni um 2.00 Uhr schlüpften wir in unsere amerikanischen Panzerfahrzeuge des Typs Bradley, um gegen die russischen Linien vorzurücken. Mit dem Ziel, die feindlichen Stellungen in Tokmak, etwa 15 Kilometer weiter südlich in Richtung Melitopol, zu erreichen, verließen wir unsere Stellungen in Mala Tokmatschka. Draußen war es stockdunkel. Wir Infanteristen warteten in unseren Bradleys darauf, auszusteigen und zum Angriff überzugehen. Die Fahrt dauerte jedoch länger als erwartet. Da wir unter feindlichen Artilleriebeschuss gerieten und fast ständig von Drohnen angegriffen wurden, hatten die Fahrer, die immer wieder ausweichen mussten, große Schwierigkeiten, in den von den Minenräumern gezogenen Furchen zu bleiben. Kurz nach 5.00 Uhr wurde unser Panzerfahrzeug getroffen. Neben den beiden blutüberströmten Piloten konnte ich die Leiche des Kommandanten ausmachen. Zusammen mit drei Kameraden sprang ich aus dem brennenden Wrack und suchte Schutz in einem nur wenige Meter entfernt liegenden russischen Graben“, berichtet der 39-jährige Ivan Kolomiets.
„Von unten hörte ich das Krächzen eines liegengelassenen Sprechfunkgeräts, aus dem russische Stimmen mit starkem tschetschenischem Akzent drangen, die sagten, dass sie zur Rückeroberung des Grabens bald zum Angriff übergehen würden. „Wir müssen von hier sofort verschwinden“, sagte ich zu mir selbst. „Genau in diesem Moment spürte ich eine Explosion, die mich am Rücken und an der linken Schulter verwundete. Ich berührte meine Uniform. Sie war mit meinem Blut getränkt. Zwei Kameraden, die geringere Verletzungen als ich erlitten hatten, packten mich unter den Achseln und zogen mich zu einem anderen Bradley, der uns zu Hilfe geeilt war. Der Fahrer versuchte zwar noch, schnell im Rückwärtsgang zu entkommen, aber auch sein Bradley wurde von Panzerabwehrraketen getroffen. Der Kommandant fiel sofort. Vom Schicksal der anderen weiß ich nichts. Wir standen unter Schock, ich hörte Stöhnen und wir lagen in Blut und verbranntem Öl. Eine halbe Stunde später starb mein 32 Jahre alter Freund Dmitri. Ich schloss ihm seine Augen. Es vergingen zwei weitere Stunden. Zum Glück fand ich das Bordfunkgerät, mit dem ich alle zehn Minuten einen Notruf absetzte. Wir lebten noch und warteten auf Rettung. Endlich traf ein dritter Bradley ein. Aber die Freude darüber wähnte nur wenige Momente. Das von einer Fliegerbombe getroffene Panzerfahrzeug brannte innerhalb kürzester Zeit aus. Ich sah noch ein Besatzungsmitglied herauskriechen und im Gras verschwinden. Nach weiteren unendlich langen fünf Stunden kam ein M113-Truppentransporter vorbei. Da sich das Kampfgeschehen weiter nach rechts verlagert hatte, war es hier etwas ruhiger geworden. Die Russen schossen zwar auf uns, verfehlten uns aber. Ich war gerettet“, schließt der 39-jährige Soldat seine Schilderung des vielleicht bisher schwärzesten Tags seines Lebens.
Ivan Kolomiets, der als Infanterist des zweiten Bataillons der an der Südfront eingesetzten 47. mechanisierten Brigade dient, schildert seinen dramatischen Kampfeinsatz von seinem Bett im Krankenhaus von Saporischschja aus. Der Infanterist kam in dieser Nacht knapp mit dem Leben davon – ein Glück, das viele seiner Kameraden leider nicht besaßen.
Im selben Krankenzimmer wie Ivan Kolomiets liegt ein weiterer Soldat, der am 7. Juni verwundet wurde. „Ich habe zwischen Januar und Februar auf NATO-Basen in Europa trainiert. Zum Glück haben uns die Amerikaner diese besser gesicherten, gepanzerten Fahrzeuge überlassen. Mit den alten, von der Sowjetarmee geerbten Modellen wären unsere Verluste noch viel höher gewesen“, erzählt der 28-jährige Viktor Hametz, der als Bradley-Pilot im ersten Bataillon der gleichen Brigade eingesetzt war. Gleich wie für Ivan war auch für Viktor der Angriff eine traumatische Erfahrung.
„An diesem Tag stießen wir mitten in die Minenfelder hinein vier oder fünf Kilometer weit vor. Wir mussten jedoch bald feststellen, dass wir nicht in der Lage waren, die stark befestigten Verteidigungsanlagen zu überwinden, die die Russen in den letzten Monaten errichtet hatten. Die Russen, die sich sehr gut in ihren Betonbunkern verschanzt hatten, waren nicht nur zahlreich, sondern besaßen auch noch Luftunterstützung. Zudem hatten sie überall Kameras aufgestellt, die es ihren Wachposten erlaubten, uns zu beobachten, ohne selbst aus der Deckung zu müssen. Eines unserer größten Probleme war und ist, dass wir mehr Minenräumer benötigen. Wenn wir nicht schnell und gleichzeitig viele Lücken öffnen, erhalten die Russen die Zeit, den Widerstand zu organisieren und uns aufzuhalten“, spricht der verwundete Bradley-Fahrer die Mängel der ukrainischen Gegenoffensive an.
Viele Soldaten und Offiziere, die es vorziehen, nicht namentlich genannt zu werden, stimmen dieser Ansicht zu. Das Problem – so diese Offiziere – ist, dass die beiden Armeen die Rollen getauscht hätten. Nach den Russen im vorigen Jahr befinden sich nun die Ukrainer in der Offensive. „Wir stehen vor den gleichen Problemen wie vor einem Jahr die Russen. Wir sind gezwungen, eine große Armee zu manövrieren, was die gleichzeitige Koordinierung und Zusammenarbeit vieler Einheiten, Geräte und Fahrzeuge erfordert“, meinen diese Offiziere, die nicht genannt werden möchten.
Der Kampfeswillen der ukrainischen Armee ist jedoch ungebrochen. Niemand macht Andeutungen darüber, mit Putins Russland einen möglichen Waffenstillstand oder gar im Tausch für Frieden einen territorialen Kompromiss anzustreben. „Wir müssen unsere Strategie ändern und in der Zwischenzeit die russische Verteidigung zermürben, aber die einzige Chance, Frieden zu schließen, wird erst dann kommen, wenn wir all unsere Gebiete befreit haben“, bekräftigen die Soldaten. Als die Gedanken aber wieder zu den gescheiterten Angriffen und zu den vielen gefallenen Kameraden schweifen, senken sich erneut die Blicke.