Von: ka
Mailand – Eine Pathologin, Cristina Cattaneo, die mit ihren Kollegen im Rahmen eines Pilotprojekts versucht, im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen einen Namen zu geben, machte in den Kleidern eines toten Flüchtlingsjungen eine traurige Entdeckung.
Der ungefähr 14 Jahre alte Junge trug sorgfältig zusammengefaltet und in einer Tasche eingenäht sein Schulzeugnis bei sich. In der Hoffnung auf ein besseres Leben hatte der namenlose Junge seine Reise nach Europa angetreten und hatte, um seine guten Absichten beweisen und seine Ausbildung fortsetzen zu können, sein Zeugnis mit Bewertungen in allen Fächern mitgenommen. Zusammen mit denen vieler anderer Flüchtlinge war aber auch der Traum des Jungen im Mittelmeer zu Ende gewesen.
Die Geschichte des Jungen mit dem Zeugnis ist vielleicht die traurigste, die im Buch „Naufraghi senza volto“(Schiffbrüchige ohne Namen, Anmerkung der Redaktion) von Cristina Cattaneo erzählt wird. Cristina Cattaneo arbeitet am Labanof (Labor für forensische Anthropologie und Zahnmedizin an der Universität von Mailand) und versucht dort zusammen mit ihren Kollegen im Rahmen eines Pilotprojekts, im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen einen Namen und ein Gesicht zu geben.
Die sterblichen Überreste des Jungen gehörten zu einer Gruppe von 58 Opfern, die am 18. April 2015 beim Untergang eines Flüchtlingsbootes ihr Leben verloren hatten. Laut Schätzungen waren bei einer der größten Flüchtlingstragödien im Mittelmeer insgesamt mehrere Hundert Menschen, die seitdem als vermisst gelten, ertrunken. Die Leiche, die kleiner und leichter als die anderen war, zog sofort die Aufmerksamkeit der Pathologen auf sich. Anhand der noch nicht geschlossenen Wachstumsfugen an den Handwurzeln erkannten die forensischen Mediziner schnell, dass sie einen Jungen vor sich hatten, der wenig mehr als ein Kind war. Die Pathologen schätzten das Alter des Jugendlichen auf rund 14 Jahre.
Als Cristina Cattaneo die Kleider des Jungen, der nur eine Jacke, ein Hemd und Jeans anhatte, durchsuchte, stieß sie auf einen Umschlag, den der Junge, um in ja nicht zu verlieren, in eine Tasche eingenäht hatte. Im Umschlag befanden sich mehrere, sorgfältig gefaltete Papiere. Um die vom Meerwasser durchtränkten Papiere ja nicht zu beschädigen, öffnete die Pathologin sorgfältig die Falten. Dann begann sie, zu lesen. In verblassten aber noch immer recht gut leserlichen Worten stand ganz oben auf dem Papier „Bulletin scolaire“. In der Kolonne darunter wurden auf Französisch die in den verschiedenen Fächern wie „mathematiques“ und „sciences physiques“ erzielten Noten und Bewertungen aufgelistet.
„Es ist ein Zeugnis, ein Schulzeugnis“, rief laut einer der Pathologen. Dann senkten sich die Blicke der Ärzte. „Wir dachten alle das Gleiche“, erinnerte sich später Cristina Cattaneo. Mit wie vielen Erwartungen und Hoffnungen war der kleine, aus Mali stammende Junge aus seiner Heimat aufgebrochen, um in Europa ein neues Leben zu beginnen. Über eine lange Reise hinweg hatte er sein wertvolles und sorgfältig verstecktes Zeugnis bei sich getragen, von dem er sich vermutlich erhofft hatte, dass es ihm auf dem europäischen Kontinent eine weitergehende Ausbildung ermöglicht hätte. Zusammen mit denen vieler anderer Flüchtlinge war auch der Traum des Jungen im Mittelmeer geendet.
Leider ist das Schicksal des Jungen typisch für viele Ertrunkenen. Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass in den letzten Jahren rund 30.000 Menschen beim Versuch, das europäische Festland zu erreichen, im Mittelmeer ihr Leben verloren haben. Von diesen Opfern bleiben ungefähr 60 Prozent ohne Namen.
Der Zeichner und Karikaturist Makkox, der für verschiedene italienische Medien wie „L’Espresso“ und „Il Foglio“ arbeitet, hat aber trotzdem versucht, dem 14-Jährigen aus Mali ein Gesicht zu geben und hat ihm in der Ausgabe des 11. Januar der Zeitung „Il Foglio“ eine einfühlsame Zeichnung gewidmet.
In der „Verlorene Schätze“ getauften Zeichnung bewundern ein Tintenfisch und ein Hai die Bestnoten des braven Schuljungen aus Mali.
Durante un’autopsia, Cristina Cattaneo,medico legale, trova una pagella piegata con cura,cucita nella povera tasca di un quattordicenne proveniente dal Mali,affogato durante il passaggio nel mediterraneo: la speranza del suo viaggio verso l’Europa.
La pacchia, nn è mai cominciata pic.twitter.com/OYAY80nVly— MRita Gallozzi (@GallozziMrita) January 16, 2019