Von: ka
Bergamo – Ein Streit um ukrainische Waisenkinder erhitzt die Gemüter und sorgt für Spannungen zwischen Rom und Kiew. Nachdem das Gericht von Brescia der Forderung der zuständigen ukrainischen Behörden nach Rückführung der Waisenkinder in die Ukraine zunächst stattgegeben hatte, setzte das Jugendgericht von Brescia die Abreise der Minderjährigen in die Ukraine aus. Die 57 Kinder und Jugendlichen, die am 16. August mit drei Bussen in ukrainische Waisenhäuser zurückgebracht werden sollten, werden mindestens noch zwei weitere Wochen in Italien bleiben.
Die ukrainischen Waisenkinder, deren Rückführung vom ukrainischen Konsulat in Italien beantragt worden war, werden noch mindestens zwei Wochen in Italien bleiben. Das Jugendgericht von Brescia hob die vorherigen Beschlüsse auf und verfügte, die vom Gericht von Brescia bereits genehmigte Ausreise in die Ukraine auszusetzen. Der Gerichtsentscheid betrifft 57 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 17 Jahren, die kurz nach Beginn des russischen Einmarsches im März 2022 aus einem Waisenhaus im heute russisch besetzten Berdyansk geflohen und nach Italien gebracht worden waren.
Bald nach ihrer Ankunft in Italien wurden sie auf mehrere Gemeinden in der Umgebung von Bergamo verteilt, wo sie seither bei Familien oder in Gemeinschaftsunterkünften wohnen. Das Jugendgericht entschied, dass die Kinder unter der Obhut der Sozialdienste weiterhin an ihren derzeitigen Betreuungsorten verbleiben sollten. Die Rücknahme der gerichtlichen Ausreiseverfügung erfolgte, nachdem bei der Quästur von Bergamo vonseiten der Inhaber der Vormundschaften zahlreiche Anträge auf internationalen Schutz eingegangen waren.
Da das Gericht von Brescia zunächst der Forderung der zuständigen ukrainischen Behörden nach Rückführung der Waisenkinder in die Ukraine stattgegeben hatte, standen für die Rückreise drei Busse bereit, die die 57 Kinder und Jugendlichen in ukrainische Waisenhäuser zurückbringen sollten.
Gegen die gerichtlich verfügte Rückführung der Waisen, die auf Betreiben der zuständigen ukrainischen Behörden erfolgt war, regte sich jedoch sofort Widerstand. Die Kinder und Jugendlichen selbst baten darum, nicht in ihr Heimatland zurückkehren zu müssen, in dem der Krieg noch immer andauert. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR unterstützte die Anliegen der Kinder und protestierte gegen das Ersuchen der Kiewer Behörden, die Kinder in die Ukraine zurückzubringen. Der härteste Widerstand gegen die Rückführung der Waisenkinder kam jedoch von den Vormündern von 34 Waisenkindern und den Erziehern, die die Kinder und Jugendlichen in den verschiedenen Zentren betreuen.
Die Kinder, die am 20. März 2022 in Bergamo angekommen waren, wurden bald nach ihrer Ankunft auf die Gemeinden Rota d’Imagna, Pontida und Bedulita verteilt und dort bei Familien oder in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Die elternlosen Kinder und Jugendlichen wurden im Rahmen des Projekts Patti Educativi Familien in einer Art vorübergehender Pflegschaft anvertraut.
Die Waisen sind gut in den Dorfgemeinschaften integriert, sprechen fließend Italienisch und treiben in verschiedenen Vereinen Sport. Die Erzieher, Betreuer und Vormünder der Kinder befürchten, dass durch die laut ihrer Ansicht übereilte Rückführung nicht nur die erfolgreiche Integrationsarbeit zunichtegemacht würde, sondern vor allem, dass die Waisenkinder in die “Mühlen des Kriegs” geraten könnten.
“Wir kennen die Einrichtungen, in denen die Minderjährigen untergebracht werden sollen. Die eine liegt an der Grenze zu Rumänien, die andere hingegen befindet sich in Oleksandriwka, das weniger als 100 Kilometer von einem Gebiet entfernt ist, in dem Bomben fallen. Einige der Rückkehrer – nämlich die älteren Brüder der Kinder, die bei uns untergebracht waren – erzählen uns, dass Strom, warmes Wasser und Lebensmittel nicht immer vorhanden sind. Diese Kinder sind Waisen und staatenlos. Ich bin es leid, der Welt zuzurufen, dass sie nicht in ein Land zurückkehren können, in dem Krieg herrscht. Um rechtzeitig in einem Schutzbunker Zuflucht suchen zu können, müssten sie sich wieder an das Heulen der Sirenen gewöhnen”, so der Koordinator des Projekts zur schulischen Aufnahme der Waisen, Diego Mosca.
Auch die Familien, die sie aufgenommen hatten, wiesen wiederholt auf die Gefahren hin, denen die Kinder nach der Rückkehr in die Ukraine ausgesetzt sein könnten. Sie baten daher darum, ihre Rückführung auf einen günstigeren Zeitpunkt zu verschieben.
Am Mittwochnachmittag kam es aus Sicht der Vormundschaftseltern und Erzieher zur fast schon unverhofften Wende. Das Jugendgericht von Brescia setzte die Rückführung aus und ordnete an, dass die Kinder unter der Obhut der Sozialdienste zumindest vorläufig weiterhin bei ihren Pflegefamilien und in ihren derzeitigen Betreuungsorten bleiben können.
Ausschlaggebend für die Entscheidung der Jugendrichter waren wohl die etwa 30 Anträge auf internationalen Schutz, die die Kinder über ihre Vormünder gestellt hatten. Die Befürchtung, dass bei einer Rückkehr in Gebiete, die in der Nähe von Kriegsschauplätzen liegen, die Sicherheit der Kinder gefährdet sei, dürfte das Jugendgericht dazu bewogen haben, die “Rückführung der Minderjährigen in die Ukraine vorübergehend auszusetzen”.
Im September dürfte der Streit um die ukrainischen Waisenkinder in die nächste Runde gehen. In einem offenen Brief wandten sich die Pflegefamilien von Rota d’Imagna an die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Darin fordern sie Giorgia Meloni dazu auf, ihr Anliegen, die Rückführung der Kinder und Jugendlichen mindestens um ein Jahr zu verschieben, zu unterstützen.
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