Impfgegner-Szene driftet immer weiter ab

„Heimtherapie von Netzdoktoren“: Zink und Vitamine gegen Covid-19

Donnerstag, 04. November 2021 | 07:00 Uhr

Von: ka

Venedig – Soziale Netzwerke wie Facebook und Telegram werden immer häufiger von Chatgruppen bevölkert, in denen sich Patienten von Unbekannten Ratschläge zur „häuslichen Therapie“ gegen Covid-19 holen. Dies führt nicht selten leider dazu, dass positiv Getestete mit Symptomen versuchen, fernab von jeglicher medizinischen Betreuung die Krankheit mit Vitaminen, Zink, Lattoferin und ähnlichen Mitteln zu „bekämpfen“.

Die Ärzte in den Covid-19-Abteilungen schlagen Alarm. Da die „Heimtherapie von Netzdoktoren“ wie zu erwarten fehlschlägt, suchen diese Patienten, die fast immer Impfgegner sind, erst spät ärztliche Hilfe. Dies führt dazu, dass die Krankenhäuser es immer öfter mit SARS-CoV-2-Patienten in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium zu tun bekommen, wobei die Folgen bis hin zum Tod sehr schwerwiegend sein können. Inzwischen beginnen Psychologen, dieses gesellschaftliche Phänomen zu erforschen.

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„Außerhalb jeder Rationalität ist hier eine mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe verbundene emotionale und instinktive Sphäre am Werk. Rationale Gesundheitskommunikation erreicht die Emotionalität dieser Menschen nicht mehr“, so der Präsident der Vereinigung der Psychologen von Venetien, Luca Pezzullo, gegenüber dem Onlinemedium Huffpost.

„Ich bin 60 Jahre alt und schreibe Ihnen aus Triest, weil ich an Corona erkrankt bin. Morgen früh werde ich mich an meinen Arzt wenden, der vermutlich die Leitlinien anwenden wird. Ich weiß jedoch nicht, ob er mir raten wird, geeignete Medikamente einzunehmen, oder ob er die Formel ‘Tachipirin und abwarten’ empfehlen wird. Ich möchte Sie daher fragen, ob Sie unabhängig von meinem Arzt in der Lage sind, mir zusätzlich zu den Nahrungsergänzungsmitteln, die ich bereits einnehme – Vitamin C, Zink, Vitamin D und Lactoferrin – geeignete Medikamente zu verschreiben“, lautet eine Nachricht in einer Chatgruppe, in der die Mitglieder untereinander Ratschläge zur „häuslichen Therapie“ gegen Covid-19 austauschen.

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Diese Gruppen, die sich insbesondere auf Telegram, aber auch auf Facebook finden, zählen mittlerweile Tausende von Mitgliedern. Sie misstrauen der Schulmedizin und vertrauen lieber „Rezepten“, die sie von Unbekannten im Netz bekommen. Die Ärzte in den Covid-19-Abteilungen schlagen Alarm. Da die „Heimtherapie von Netzdoktoren“ wie zu erwarten fehlschlägt, suchen diese Patienten, bei denen es sich fast immer um Impfgegner handelt, erst spät ärztliche Hilfe. Dies führt dazu, dass die Krankenhäuser es immer öfter mit SARS-CoV-2-Patienten in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium zu tun bekommen. Adäquate Hilfe ist in manchen Fällen aber oftmals nicht mehr möglich, was auch zum Tod zur Folge haben kann.

Inzwischen beginnen Psychologen, dieses gesellschaftliche Phänomen zu erforschen. „Das soziale Vertrauen in das Gesundheitswesen und in die Ärzteschaft hat aufgrund einer Reihe von als widersprüchlich wahrgenommenen Informationen, die auf immer wieder neue wissenschaftliche und klinische Erkenntnisse über das Virus und über die Krankheit zurückzuführen sind, Schaden genommen. In diesen Gruppen, die wie Blasen wirken, bestätigen sich die Mitglieder gegenseitig in ihrem Misstrauen und suchen gemeinsam nach Lösungen, die auf Fake News beruhen. Diese Blase gibt diesen Skeptikern eine Identität und eine „Wahrheit“, die das „System“ vermeintlich nicht bieten kann oder ihnen nicht geben will. Damit verbunden sind paranoide Verschwörungstheorien, die von einem korrupten und mit Konzernen kollaborierenden Gesundheitssystem handeln“, meint der Präsident der Vereinigung der Psychologen von Venetien, Luca Pezzullo, gegenüber dem Onlinemedium Huffpost.

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Hinzu kommt ein David-gegen-Goliath-Narrativ, das oft in Notsituationen auftaucht. Eine kleine Gruppe, die sich ausgegrenzt fühlt, gibt sich einfache, sehr polarisierende Erklärungen, was darauf hinausläuft, das Gute bei sich selbst und Gleichgesinnten und das Böse bei allen, die sich außerhalb dieser Blase befinden, zu suchen. Aus diesem Grund verlassen sich Ratsuchende lieber auf einen in der Gruppe kennengelernten Unbekannten als auf einen Experten wie dem Haus- oder Facharzt.

„Das Thema kann nicht mehr rational angegangen werden. Es wird nicht im Kortex unseres Gehirns verarbeitet, der sich mit logischen Überlegungen, sondern im Subkortex, der sich mit Angriffs- und Fluchtreaktionen bei Gefahr befasst. Dies geschieht also sehr emotional und instinktiv und ist mit der Gruppenzugehörigkeit verbunden. In einer Situation großer Angst suchen diese Menschen nach Beruhigungen, die oft als Dogma daherkommen. Das kann die ‘Wahrheit’ sein, die sie einem nicht sagen wollen oder die mir angeblich vorgaukelt wird, um mir einen Anker der Gewissheit zu geben. Rationale Gesundheitskommunikation erreicht die Emotionalität dieser Menschen nicht mehr“, fährt Luca Pezzullo fort.

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„Bei den Empfängern dieser Ratschläge handelt es sich meistens entweder um Menschen mit bescheidenem soziokulturellem Niveau, die wirtschaftlich sehr schwach sind und sich bereits vor der Pandemie als Randgruppe der Gesellschaft empfunden haben, oder um Personen, die zwar über ein gutes kulturelles Niveau verfügen, sich aber einem starken ideologischen Wertesystem einer Gegenkultur verbunden fühlen, was sie dazu veranlasst, sich stärker an diese Instanzen zu halten“, antwortet der Psychologe auf die Frage, um welche Personengruppen es sich bei den Ratsuchenden handelt.

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Unter den Ratgebenden hingegen befänden sich laut dem Psychologen sowohl Scharlatane, die versuchen, ihre Produkte zu verkaufen, als auch sehr narzisstische Menschen, die sich als Retter der anderen sähen und deren Befriedigung es sei, Ratsuchenden Antworten zu geben. Beiden Gruppen gemeinsam sei, dass es sich zumeist um Personen handelt, die keinerlei medizinische Ausbildung besitzen.

Die „Theorien“ dieser Personen lassen auch viele Experten ratlos zurück. Die wichtigste Botschaft ist, dass seriöse öffentliche Gesundheitskommunikation diese Menschen kaum mehr erreicht. Wie kann es aber gelingen, diese Menschen aus „ihrer Welt“ heraus wieder in die Realität zurückzuholen?