Von: ka
Rom/Berlin/Wien – Sowohl verschiedene italienische Regionen, als auch deutsche Wirtschaftsverbände drängen darauf, die Lockerungen zügiger in Angriff zu nehmen und die Grenzen früher zu öffnen, aber die Regierungen der jeweiligen Staaten bremsen. Während man in Rom Angst hat, nach den schlimmsten Wochen seit dem Zweiten Weltkrieg, die ersten Früchte des strengen Lockdowns zu verspielen, ist in Deutschland, das bisher recht gut durch die Pandemie gekommen ist, die Furcht groß, den entscheidenden Fehler zu begehen. Aus diesem Grund erteilte die römische Regierung Reisen zwischen den Regionen und die deutsche Bundesregierung einer unter anderem von Österreich gewünschten schnellen Grenzöffnung eine Absage. In beiden Staaten hängen alle zukünftigen Entscheidungen vom Verlauf der Coronapandemie ab. Dabei kommt der Reproduktionszahl, abgekürzt R, entscheidende Bedeutung zu.
Dobbiamo arrivare a R0,2: come si calcola l’indice di contagio che ci consentirà di uscire e spostarci https://t.co/HmaXEA3h31
— Corriere della Sera (@Corriere) May 2, 2020
Italiens leidgeplagte Touristiker, die mit den verschiedensten Maßnahmen Vorbereitungen treffen, um wenigstens noch einen Teil der Sommersaison retten zu können, erhielten eine weitere Hiobsbotschaft. Sie hängt mit der Reproduktionszahl R zusammen. Die Reproduktionszahl R gibt an, wie viele Gesunde ein Infizierter nach eindämmenden Maßnahmen durchschnittlich ansteckt. Bei R handelt es sich also um einen „Ansteckungsindex“. Ist die Reproduktionszahl R unter eins, heißt das, dass eine Covid-19-positive Person im Schnitt weniger als einen Gesunden mit dem Virus ansteckt, was bedeutet, dass die Gesamtanzahl der Infizierten sinkt und die Epidemie irgendwann mit der Zeit erlischt. Nur wenn sie von derzeitig rund 0,7 auf 0,2 sinkt, wird aus heutiger Sicht die römische Regierung Reisen außerhalb der Wohnsitzregion erlauben.
Iss: "Indice R0 sceso sotto l'1 in tutte le Regioni, 74 zone rosse" https://t.co/zkvPlZpzuu
— L'HuffPost (@HuffPostItalia) April 30, 2020
Die Regierung, so Regionenminister Francesco Boccia, wird in den nächsten Wochen den Verlauf der Corona-Zahlen genau beobachten. Im gleichen Atemzug warnte Francesco Boccia die Regionen und die autonomen Provinzen vor Eigeninitiativen. „Wir werden keine kreativen Verordnungen erlauben, besonders nicht im Sommer“, so Francesco Boccia.
Die Reproduktionszahl ist in Deutschland wieder auf 1,0 angestiegen. Was genau steckt hinter dieser Zahl R und warum ist sie so entscheidend? https://t.co/njCCN9pk8q
— DW Deutsch (@dw_deutsch) April 28, 2020
Der erste „Test“ wird am 11. Mai geschehen. Eine Woche nach Beginn der Phase 2 werden die Experten der Regierung alle die Pandemie betreffenden statistischen Daten genau unter die Lupe nehmen und ein nach Regionen und autonomen Provinzen aufgeteiltes, detailliertes Gesamtbild erstellen. Das Ergebnis dieser Untersuchung wird entscheidenden Einfluss darauf nehmen, ob die Lockerungen beschleunigt, verlangsamt, oder gar zum Teil zurückgenommen werden. Sind die Zahlen zufriedenstellend, können wie geplant mit dem 18. Mai die Detailhandelsgeschäfte geöffnet werden. Wie am 11. Mai werden auch eine Woche später die letzten Zahlen genau betrachtet werden. Davon wird abhängen, ob die Regierung die Möglichkeit einräumen wird, die Zweitwohnsitze – immer, sofern sie sich in der gleichen Region befinden – aufzusuchen.
Coronavirus, ecco regione per regione l’indice di trasmissibilità della malattia https://t.co/qBvnipnJwg pic.twitter.com/orJDGGSVO7
— IlSole24ORE (@sole24ore) May 1, 2020
Von der Reproduktionszahl R wird auch abhängen, ob Reisen zwischen den Regionen möglich sein werden. Die römische Regierung gedenkt, diese Lockerung nur zu erlauben, wenn die Reproduktionszahl R von heute durchschnittlich 0,7 auf 0,2 sinken wird. Dies geschieht nicht ohne Grund. Ein R von 0,2 wird von den Wissenschaftlern als Schwellenwert angesehen, über dem eine weitgehende Reiseerlaubnis als zu riskant erscheint. Ein R von 0,2 heißt aber auch, dass die Anzahl der neuen Fälle sehr gering sein muss.
Home Office, Supermarktschlange, Abstandhalten – inzwischen fast normal. Während wir auf einen Impfstoff warten, breitet sich das Coronavirus weiter aus. Ein entscheidender Marker dabei: Die Reproduktionszahl R. 🤔👉 https://t.co/m7A2rETR1C pic.twitter.com/2BqXh162Fo
— DW Wissenschaft (@dw_wissenschaft) April 24, 2020
Ob und wie schnell die Reproduktionszahl R auf den Wert von 0,2 sinken wird, steht in den Sternen. Derzeit scheint es ungewiss, ab welchem Datum das Reisen über die Grenzen der einzelnen Regionen hinaus – sprich echter Tourismus – möglich sein wird. Daher ist es wenig verwunderlich, dass R wie ein Damoklesschwert über die von der Covid-19-Epidemie schwer getroffenen Touristiker schwebt.
Eine große Rolle spielt auch, ob die Grenzen wieder geöffnet werden. Österreich hält die Grenzübergänge nach Italien noch mindestens bis zum 22. Mai geschlossen. Die Alpenrepublik, die selbst noch hofft, mit deutschen Gästen die eigene Sommersaison retten zu können, bemüht sich bei der deutschen Bundesregierung um eine schnellere Öffnung der deutsch-österreichischen Grenzübergänge. Deutschland, das bisher gleich wie Österreich recht gut durch die Pandemie gekommen ist, fürchtet aber einen erneuten Anstieg der Ansteckungen. Ähnlich wie in Italien steht dabei die Reproduktionszahl R im Mittelpunkt. Bundesinnenminister Horst Seehofer und Außenminister Heiko Maas sprachen sich am Sonntag gegen eine vorschnelle Wiederaufnahme des Reisebetriebs zwischen Deutschland und Österreich aus.
"Wir können und werden im Sommer nicht noch einmal eine Viertelmillion Menschen aus dem Urlaub zurückholen."
Pubblicato da Kleine Zeitung su Domenica 3 maggio 2020
In diesem Sinne herrscht Ungewissheit darüber, ob, ab wann und welche Gäste nach Italien – und daher auch nach Südtirol – reisen dürfen. Als einzigen Lichtblick will die römische Regierung Reiseverkehr zwischen benachbarten Regionen, die zwar noch nicht ein R von 0,2 erreicht haben, sich aber aus epidemiologischer Sicht beide auf einen guten Weg befinden, erlauben. Von Südtirol aus gesehen könnte aus heutiger Sicht nur die Nachbarregion Venetien diese strengen Kriterien erreichen. Vielleicht ist dies heuer die einzige Möglichkeit, das Meer zu sehen.