Von: ka
Ventimiglia/Oulx/Bozen – Die Anzahl der Migranten und Flüchtlinge, die die italienischen Grenzen überschreiten, steigt in den letzten Monaten wieder stark an.
Bei diesen gefährlichen Grenzübertritten, die häufig auch mitten im Winter im Hochgebirge stattfinden, sind Männer, Frauen und Kinder dazu gezwungen, sich bis zum Ende ihrer Kräfte anzustrengen und oftmals Erniedrigungen, Schikanen und sogar Gewalttaten zu erleiden. Das Einzige, was sie trotz allem auf den Beinen hält, ist der Wunsch, ihr Ziel zu erreichen.
„In den Grenzstädten sind die Institutionen völlig abwesend. Die Aufnahme, die humanitäre Hilfe und die medizinische Versorgung liegen vollkommen in den Händen von Aktivisten und Freiwilligen, die von Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden“, so der Leiter der Abteilung für humanitäre Angelegenheiten der Ärzte ohne Grenzen, Marco Bertotto.
„Es liegt aber in erster Linie in der Verantwortung der Regierungen, eine Migrationspolitik zu betreiben, die Hilfe und Schutz bietet, anstatt Ausgrenzung und Leid zu verursachen. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen fordert die italienischen Behörden dazu auf, die ‚ständigen Abweisungen‘ an der italienisch-slowenischen Grenze einzustellen. Die Ärzte ohne Grenzen rufen die italienischen Verantwortlichen auch dazu auf, sicherzustellen, dass bei den Kontrollen an der italienisch-französischen Grenze die Würde und die Sicherheit der Menschen respektiert, die Schwächsten unter ihnen besonders geschützt und dass in allen grenznahen Gebieten angemessene Bedingungen für die Unterbringung, die Unterstützung und den Zugang zu medizinischen Leistungen gewährleistet werden.“
Einer der Orte, wo die humanitäre Lage besonders prekär ist, ist die kleine Grenzstadt Ventimiglia in Ligurien. Nachdem das Durchgangslager geschlossen wurde, leben die Migranten und Flüchtlinge auf der Straße, neben den Gleisen der Bahnstrecke, in verlassenen Gebäuden oder am Strand. Es ist wohltätigen Vereinen und in Netzwerken organisierten Freiwilligen überlassen, die Migranten und Flüchtlingsfamilien mit warmen Mahlzeiten zu versorgen und direkt an der Grenze einen Verpflegungsstand zu unterhalten. Ihren Bemühungen ist auch zu verdanken, dass Familien mit Kindern eine Chance haben, eine Unterkunft in der Stadt zu finden. „Dank eines dichten Netzwerks der Solidarität, das sich in der Umgebung gebildet hat, schaffen wir es, die Menschen zu erreichen“, so der Aktivist der Hilfsorganisation Progetto 20K, Luca Daminelli. Luca Daminelli steht jeden Abend an der Grenze, um unter den durchreisenden Menschen warme Mahlzeiten und wärmende Kleidung zu verteilen.
Auch in Triest nehmen sich die Aktivisten verschiedener Hilfsorganisationen der Migranten und Flüchtlinge, die nach dem Durchqueren mehrerer Länder des Balkans die Grenze nach Italien überschreiten, an. Die Flüchtlingsfamilien erreichen Italien meist zu Fuß. In einem kleinen Garten vor dem Bahnhof bieten Freiwillige heiße Getränke, Essen und warme Kleidung an. Wenn nötig, werden an diesem Ort auch die Verletzungen, die die Migranten auf ihrer Reise erlitten haben, medizinisch behandelt. In der Regel handelt es sich dabei um Wunden an den Füßen, die durch langes Gehen in ungeeigneten Schuhen oder beim Barfußgehen entstanden sind.
In Oulx, eine Ortschaft im oberen Susatal im Piemont, haben die Covid-19-Pandemie und der Lockdown zwar zu einem Rückgang der Grenzübertritte geführt, aber trotz des heuer besonders schneereichen Winters versuchen immer wieder Flüchtlinge, die Grenze zu überqueren. „Freiwilligen und Aktivisten, die auf den Bergen Hilfe und Unterstützung gewähren, ist es zu verdanken, dass es in all den Jahren ‚nur‘ fünf Opfer gab“, so der piemontesische Vertreter der „MEDU – Medici per i Diritti Umani“, Piero Gorza.
In Bozen ist für die Flüchtlinge die Lage nicht minder schlimm. Wie Ärzte ohne Grenzen berichtet, sollen auf den Straßen der Landeshauptstadt rund 120 Migranten leben. Unter der Autobahn und am Eisackufer hausen etwa 50 Menschen unter äußerst prekären hygienischen Bedingungen. Ohne Zugang zu Wasser und Wärme harren sie in Zelten und Verschlägen in der teilweise eisigen Kälte aus.
Aber es gibt auch eine Südtiroler Geschichte der Hoffnung. Der ursprünglich aus dem Niger stammende Issifi hatte nach seiner Rückkehr aus Deutschland und der Schweiz in Bozen über ein Jahr lang auf der Straße gelebt. Dann traf er Mirta, Federica und Reiner, der einen Hof mit biologischem Apfelanbau bewirtschaftet. Reiner beschloss, ihn auch außerhalb der Erntezeit auf seinem Hof zu beherbergen und ihm eine Chance zu geben. Heute zeigt Reiner Issifi, wie man die Apfelbäume schneidet.
„Seine Geschichte zu erfahren, ist für mich wichtig gewesen. Es hat mich bereichert und ich war beeindruckt von dem, was er auf der Reise erlebt hat. Keiner von uns kann sich das Leid, das sie erfahren, und die schrecklichen Dinge, die mit einer Reise wie der ihren verbunden sind, wirklich vorstellen. Und obwohl sie ein so hartes Schicksal erlitten haben, tragen sie immer ein Lächeln auf ihrem Gesicht“, so Reiner, der sich freut, einen Beitrag für eine bessere Welt leisten zu können.