Von: APA/dpa
An fünf fast unendlich langen Abenden versammeln sich während des traditionellen Sanremo-Musikfestivals in Millionen italienischer Wohnzimmer Jung und Alt pünktlich zur Hauptsendezeit vor dem Fernseher. Es ist wieder so weit und in Italien bricht am Dienstag das alljährliche Sanremo-Fieber aus. Selbst wer will, kann dem gigantischen Hype um den Gesangswettbewerb nicht aus dem Weg gehen – es ist schier unmöglich.
Schon Wochen vor dem Start der 75. Ausgabe ist der Popmusik-Wettbewerb das große Thema: in den Zeitungen, im Fernsehen, in den sozialen Medien. Täglich gibt es Kandidaten-Interviews in den Blättern und auch das Magazin “TV Sorrisi e Canzoni” hat traditionell eine Woche vor Beginn des Spektakels die erste große Fotostrecke mit Klatsch und Tratsch auf den Markt gebracht.
Sanremo im Ausnahmezustand
In dem sonst beschaulichen Städtchen an der italienischen Riviera wirbeln schon Wochen vor Beginn des Events zahlreiche Mitarbeiter der übertragenden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt RAI herum und bereiten alles für den großen Ansturm der Fans vor.
In der Innenstadt haben sie bereits eine große Bühne zum Public-Viewing aufgebaut, Straßen abgesperrt und vor dem Teatro Ariston Sperrzäune montiert, um die Schaulustigen vom roten Teppich fernzuhalten. Die Gasse zu dem Theater mit ihren Bars und Geschäften gleicht indes einer Sicherheitszone. “Che follia” – was für ein Wahnsinn, sagt ein genervter Barista dazu.
Nach fünf Tagen wird ein Sieger gekürt – und damit automatisch Italiens Beitrag für den Eurovision Song Contest (ESC). Auch wenn Sanremo dann wieder zur Normalität zurückkehrt – eine Zeit lang drehen sich die Gespräche der Italiener am Tresen der Stammbar oder an der Supermarktkasse dann noch um die (vermeintlichen) Skandale der zu Ende gegangenen Ausgabe.
Zertrampelte Rosen und ein Zungenkuss von Rosa Chemical
Da war etwa vor zwei Jahren der Ausraster von Sänger Blanco. Weil auf seinem Ohrstöpsel seine Stimme nicht zu hören war, zertrampelte er die Rosen-Deko auf der Bühne und warf sie durch die Luft. Wenige Abende später rieb und wackelte der Rapper Rosa Chemical während seines Auftritts mit seinem Po auf dem Schoß seines Rapper-Kollegen Fedez im Publikum – es folgte ein inniger Zungenkuss der beiden.
In den Tagen danach wurde darüber noch wild debattiert. Die Lega-Partei von Italiens rechtspopulistischem Vize-Regierungschef Matteo Salvini nannte die Szene würdelos – man müsse auch an die zuschauenden Kinder denken.
Ältester Popmusik-Wettbewerb Europas
Das “Festival della Canzone Italiana”, so der offizielle Name, ist der älteste Popmusik-Wettbewerb Europas. Sanremo gibt es bereits seit 1951. Seitdem findet der Gesangswettbewerb jedes Jahr im Winter statt – in den ersten Jahren noch im Casino von Sanremo, seit 1977 im Teatro Ariston.
Neue Musik-Stars werden geboren
Ursprünglich 1951 erdacht, um mehr Touristen an diesen Teil der Küste Liguriens zu locken, legte das Festival mit der Zeit eine Erfolgsgeschichte hin. Für den ersten großen Erfolg sorgte 1958 Domenico Modugnos Auftritt mit seinem Hit “Nel blu dipinto di blu” (oder: “Volare o-o, cantare o-o-o-o”).
In den Folgejahren feierten auf der Bühne von Sanremo damals noch weniger bekannte Musiker ihre ersten großen Erfolge. Adriano Celentano, Milva, Gigliola Cinquetti, Lucio Dalla, Iva Zanicchi, Mina und später die Band Måneskin – sie alle wurden mit ihren Auftritten in Sanremo zu großen Stars.
Die Erfolgsgeschichte wurde jedoch 1967 von einem traurigen Vorfall getrübt: Der 28-jährige Luigi Tenco trat mit seinem Lied “Ciao amore ciao” in Sanremo auf. Sein Beitrag qualifizierte sich jedoch nicht für das Finale. Gekränkt zog er sich in sein Zimmer im Hotel Savoy zurück und nahm sich dort das Leben.
Später setzte sich immer mehr der Unterhaltungscharakter des Festivals durch. Die Gruppe Ricchi e Poveri glänzte 1981 mit ihrem Kultsong “Sarà perché ti amo”. Im Jahr darauf nährten Al Bano und Romina Power mit “Felicità” die deutsche Italiensehnsucht. 1983 zog Toto Cutugno mit “L’Italiano” nach.
Musik, Spektakel und Glamour verzaubern Millionen Italiener
Mit der Zeit hat sich Sanremo modernisiert. Heute treten Künstler mit Rap, Ska, Elektronik oder Indierock auf. Eine Tradition blieb bestehen: Der Text aller Beiträge muss auf Italienisch sein. Textzeilen in Dialekt oder Fremdsprachen sind zugelassen, solange der Beitrag einen “italienischen Charakter” beibehält.
Es ist diese Mischung aus Modernität und Tradition, die ein sehr heterogenes Publikum Abend für Abend begeistert. Geblieben ist zudem der für so manch einen Nicht-Italiener befremdlich erscheinende Mix aus Musik, Spektakel und übertriebenem Glamour. Während anderswo der Trend weg vom linearen Fernsehen geht, beschert das Festival der RAI Traum-Einschaltquoten.
“In Sanremo wird ein Husten zu einem Erdbeben”
Die 75. Ausgabe dürfte wieder ein musikalisches Spektakel versprechen. Die italienische Klatschpresse wittert jedoch auch Zündstoff: Zu den insgesamt 29 Kandidaten gehören etwa die Rapper Tony Effe (33) und Fedez (35), denen eine Feindschaft nachgesagt wird.
“In Sanremo wird ein Husten zu einem Erdbeben, aber das ist das Schöne an diesem Festival”, sagt Carlo Conti, künstlerischer Leiter und Moderator der diesjährigen Ausgabe. Für viele Italiener gilt in der Sanremo-Woche etwas ironisch: Die Musik ist nur Beiwerk – das Drumherum macht den Zauber aus.
Dennoch lassen es sich Millionen Italiener am extrem langen Finalabend nicht entgehen, live zu erfahren, wer am Ende mit musikalischem Talent überzeugt. Vergangenes Jahr dauerte dieses Spektakel übrigens bis 2.30 Uhr morgens.
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