„Wunder“ mit politischem Hintergrund

Italiens Küste plötzlich um 3.000 Kilometer länger

Montag, 11. Dezember 2023 | 08:00 Uhr

Von: mk

Rom – In Italien hat sich die Küstenlinie offenbar auf wundersame Weise verlängert. Anstatt 8.000 Kilometer sind es plötzlich 11.000. Der Hintergrund ist ein politischer.

Der Unterschied von 3.000 Kilometern entspricht immerhin einer Strecke vom Aostatal im Norden bis nach Syrakus an der Südküste Siziliens und wieder retour. Dabei stellt sich die Frage, wie ein derartiges Ausmaß den Italienern bislang verborgen bleiben konnte.

Der italienischen Universalenzyklopädie Treccani zufolge beträgt die Länge der Küstenlinie schon seit jeher rund „8.000 Kilometer“. Die Summe beinhaltet auch die Küsten der großen Inseln Sardinien und Sizilien sowie aller kleineren Inseln. Die Enzyklopädie nennt deshalb keine genaue Zahl, weil es praktisch unmöglich ist, die zerklüftete Küste ganz genau zu vermessen.

Genau dieses Kunststück ist nun aber den Mitgliedern des „technischen Gremiums“ gelungen, das die Regierung rund um Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in der Frage der Strandbad-Konzessionen berät, schreibt der Standard in seiner Online-Ausgabe. Laut Arbeitsgruppe beträgt die Länge der Küste exakt 11.172 Kilometer und 794 Meter.

Hintergrund für das Mysterium sind die Strandbad-Konzessionen in Italien, wegen denen zwischen Rom und der EU ein Streit entbrannt ist. 30.000 Bezahlstrände mit ihren bunten Sonnenschirmen und bequemen Liegen erfreuen Italiener und auswärtige Urlauber im Sommerurlaub. In der Badesaison sind dort rund 300.000 Mitarbeiter beschäftigt, die pro Jahr einen Umsatz von rund 15 Milliarden Euro erwirtschaften.

Doch in den Augen der EU sind die Bezahlstrände illegal, weil die staatlichen Konzessionen zur Belebung der Konkurrenz regelmäßig neu ausgeschrieben werden müssten. Das geschieht jedoch nicht. Die Bezahlstrände fallen unter die sogenannte Bolkestein-Direktive, die 2006 erlassen wurde, da sie knappen öffentlichen Grund belegen.

Sämtliche italienische Regierungen, egal ob Mitterechts oder Mittelinks, haben sich bisher geweigert, den Forderungen aus Brüssel zu entsprechen. Die Lido-Lobby ist einfach zu mächtig und auch viele Italiener sähen es wohl nur ungern, wenn der Betreiber ihres Strandbads seine Konzession zum Beispiel an einen chinesischen Tour-Operator verlieren würde, nur weil dieser dem Staat ein besseres Angebot macht.

Kürzlich ist der EU-Kommission allerdings der Geduldsfaden gerissen. Deshalb hat sie wegen der Strandbad-Konzessionen die Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Italien eingeleitet.

Hier kommt nun die wundersame Verlängerung der Küstenlinie ins Spiel: Falls die italienische Regierung der EU beweisen kann, dass es sich bei den Stränden gar nicht um ein „knappes Gut“ handelt, würden die Bezahlstrände von der Bolkestein-Direktive verschont bleiben.

Tatsächlich sind die Bezahlstrände „nur“ auf 2.143 Küstenkilometern zu finden. Bei einer Strecke von über 11.000 Kilometern wäre dies weniger als ein Fünftel, was nicht ins Gewicht fällt. Ein Vertragsverletzungsverfahren wäre damit vom Tisch.

Die Umweltschutzorganisation Legambiente kritisiert den Wildwuchs der Bezahlstrände allerdings ebenfalls. Den Umweltschützern zufolge macht es wenig Unterschied, ob die Küste nun 8.000 oder 11.000 Kilometer lang ist. Stattdessen führen sie ins Feld, dass Konzessionen für die Lidos fast ausnahmslos für Sandstrände erteilt werden, und nicht für abgelegene Felsküsten.

Die Gesamtlänge aller Sandstrände in Italien macht aber lediglich 3.418 Kilometer aus. Davon belegen die Bezahlstrände 63 Prozent, obwohl laut italienischem Recht nur ein Maximum von 40 Prozent erlaubt wäre. Die Lidos verstoßen demnach nicht nur gegen EU-Regeln, sondern auch gegen italienische Vorschriften.

Gleichzeitig sitzen laut Legambiente in dem Beratergremium der Regierung, das die Strände neu vermessen hat und dabei die 3.000 Kilometer bisher unbekannter Küste entdeckt haben will, 24 Vertreter der Lidos und kein einziger Wissenschaftler. Die Umweltschützer hegen demnach Zweifel an der Unabhängigkeit und der Kompetenz des Gremiums. Auch ob die EU-Kommission dies so akzeptiert, bleibt fraglich.