Drittes Kriegsjahr der Ukraine – VIDEO

Munitionsmangel und hohe Verluste

Montag, 26. Februar 2024 | 06:17 Uhr

Von: ka

Kiew/Rom – Nach dem Scheitern der Gegenoffensive und insbesondere seit es den ukrainischen Geschützen an Munition mangelt, gerät die ukrainische Armee gegenüber den russischen Invasionstruppen immer stärker ins Hintertreffen.

Wie die Onlineausgabe der italienischen Militärzeitschrift Analisi Difesa in mehreren Artikeln auflistet, sind dafür gleich mehrere Faktoren verantwortlich. In der Ukraine selbst herrscht große Verbitterung. Viele Ukrainer glauben, dass ihr Land in Stich gelassen werde und jenseits von schönen Worten, Absichtserklärungen und Versprechungen dazu gezwungen werden solle, mit Kreml-Chef Wladimir Putin in Verhandlungen zu treten.

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Vom Optimismus des vergangenen Frühjahrs, als die ukrainische Armee mehrere Erfolge verbuchen und Putins Invasionsarmee aus mehreren Regionen verdrängen konnte, ist zu Beginn des dritten Kriegsjahrs nichts mehr zu spüren. Nach dem Scheitern der Gegenoffensive im Sommer, als die ukrainischen Soldaten und Panzer in den russischen Minenfeldern stecken blieben, und der bitteren Erkenntnis, dass die Stärke und die Offensivkraft der russischen Armee nicht schwindet, scheinen die ukrainischen Militärs ratlos zu sein. Kurz vor dem zweiten Jahrestag des russischen Angriffs gelang es Putins Armee, den Ukrainern die strategisch wichtige Kleinstadt Avdiivka zu entreißen.

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Für die immer schwieriger werdende Lage der Ukraine sind laut der italienischen Militärzeitschrift Analisi Difesa verschiedene Faktoren verantwortlich. Neben den hohen ukrainischen Verlusten ist der vielleicht wichtigste der Munitionsmangel. Entgegen ihren ursprünglichen Versprechungen waren die Staaten, die die Ukraine in ihrem Überlebenskampf unterstützen, imstande, nur ein Drittel der Artilleriemunition zu liefern. Andere wichtige Rüstungsgüter wie etwa Raketen und Flugabwehrsysteme treffen entweder zu spät an der Front ein oder werden in zu geringer Zahl geliefert. Wie die französische Zeitung Le Figaro berichtet, seien die Waffengeräte der NATO für die Ukrainer oft schwierig zu warten und handzuhaben, was nicht zuletzt auch an der zu geringen Ausbildungszeit liege.

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Im Gegensatz dazu kann Russland nicht nur auf seine auf Hochtouren laufende eigene Rüstungsindustrie zurückgreifen, sondern auch auf Lieferungen von Artilleriemunition aus Nordkorea und von Drohnen sowie Raketen aus dem Iran zählen. Nicht unerheblich ist, dass China „inoffiziell“ Russland wichtige elektronische Bestandteile für Waffen und Ersatzteile liefert. Da viele Waffenlieferungen über Drittstaaten erfolgen, laufen die Sanktionen – zumindest für die militärische Produktion – ins Leere.

Dieser „Rüstungswettlauf“ bedingt, dass die russische Armee zwischen fünf- bis zehnmal so viel schwere Artilleriegranaten verschießen kann wie die Ukraine. Der Direktor von Analisi Difesa, Gianandrea Gaiani, weist darauf hin, dass ihre Luft- und Artillerieüberlegenheit es der russischen Invasionsarmee ermöglicht, nicht nur die ukrainischen Stellungen und Schützengräben, sondern auch die Bereitstellungsräume und Versorgungszentren im Rücken der Front zu treffen. Dem kann die Ukraine nur die wenigen Erfolge im Schwarzen Meer entgegensetzen, wo Drohnen und Antischiffsraketen zur Versenkung eines Teils der russischen Schwarzmeerflotte führten.

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Besonders heikel ist das Thema Verluste. Die Gefallenenzahlen des Feindes aufzublähen und die eigenen zu verharmlosen, ist seit jeher Teil der Strategie von Staaten, die sich im Krieg befinden. Während es in früheren Zeiten noch schwierig war, die Zahl der Gefallenen auch nur annähernd zu bestimmen, erlaubt heutzutage der Vergleich verschiedener Parameter wie die Netzaktivität und die Smartphone-Nutzung von Personen mit der Anzahl der Bestattungen und eröffneten Erbschaftsverfahren, die Zahl der toten Soldaten recht genau abzuschätzen. Den unabhängigen Medienportalen Medusa und Mediazona zufolge dürften in den ersten beiden Kriegsjahren rund 75.000 russische Soldaten gefallen sein. Zudem sollen bis zu 280.000 Soldaten Kriegsverletzungen unbestimmten Grades erlitten haben. Militärexperten der US-Armee, die die Summe der Verwundeten und Toten auf 315.000 beziffern, gelangen zu ähnlichen Zahlen. Die russischen Verluste könnten aber auch etwas höher sein und knapp über 100.000 Opfer liegen.

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Die ukrainischen Kriegsverluste werden in einem ähnlichen Bereich veranschlagt. Die Direktorin des Instituts für Demografie und Sozialstudien der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, Ella Libanowa, meint, dass ihren demografischen Berechnungen zufolge, die sich auf mehrere Parameter stützen, bisher rund 100.000 ukrainische Soldaten gefallen seien.

Das Problem der ukrainischen Armee ist, dass ihr die Soldaten ausgehen. Im Gegensatz zum ersten Kriegsjahr melden sich kaum mehr Freiwillige zum Militärdienst. Um dem Militärdienst zu entkommen, ziehen es viele junge Ukrainer vor, ins Ausland zu fliehen. Der in der Ukraine äußerst unpopulären Entscheidung der Regierung, das Einberufungsalter von 27 auf 25 Jahre zu senken, schlägt im Parlament Widerstand entgegen. Zugleich ist unter den Frontsoldaten der Unmut groß. Die Aussicht, keinen Heimaturlaub zu erhalten, nicht ausgewechselt zu werden und weiterhin in den Schützengräben ausharren zu müssen, beginnt die zumeist jungen Männer zu zermürben.

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Während eines Austauschs mit anderen Militäranalytikern gibt Gianandrea Gaiani seiner Befürchtung zum Ausdruck, dass gerade aufgrund des ständigen russischen Artilleriebeschusses die ukrainischen Verluste inzwischen höher seien als die der russischen Invasionsarmee.

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„Angesichts der derzeitigen klaren russischen Überlegenheit in Bezug auf Waffen, Munition und Truppen ist es sehr wahrscheinlich, dass die ukrainischen Verluste zumindest im letzten Kriegsjahr insgesamt viel höher sind als die der Russen. Wenn man bedenkt, dass die Russen mit Bomben, Raketen und Drohnen tief hinter der Front die militärische und industrielle Infrastruktur des Landes zerstören, untergraben diese Verluste in jedem Fall die Möglichkeit der ukrainischen Streitkräfte, eine mehr als tausend Kilometer lange Front zu halten“, so das bittere Fazit von Gianandrea Gaiani.

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Wie Dr. Sergii Ryzhenko am 11. Januar gegenüber ABC News erklärte, nehme allein das Mechnikov-Krankenhaus in Dnipro täglich 40 bis 100 Schwerverletzte auf. Bei den täglich bis zu 100 Operationen gehe es dem Arzt zufolge leider oft nur mehr darum, an den Patienten Amputationen durchzuführen.

Laut Meinung der Vereinigung amerikanischer Militärchirurgen benötigt nur ein Viertel der verletzten ukrainischen Soldaten, die mit Aderpressen erstversorgt werden, diese auch tatsächlich. Da das Erste-Hilfe-Personal an der Front nur unzureichend ausgebildet ist und die Mindestzeit für die Evakuierung eines Verwundeten von der Frontlinie sechs Stunden beträgt – so die amerikanischen Militärchirurgen –, kostet der unsachgemäße Einsatz von Venenstaubinden mehr Gliedmaßen und Leben, als er tatsächlich rettet.

Gianandrea Gaiani sieht wenig Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken. „Die Strategie der Russen des langsamen, aber konstanten Vorrückens verfolgt ein klares Ziel. Um zu verhindern, dass die ukrainische Armee die wenigen Reserven freimachen kann, hält die russische Invasionsarmee den Druck an allen Frontabschnitten aufrecht. Sollte an einer Stelle ein größerer Erfolg gelingen, besitzt die Ukraine kaum Möglichkeiten, dem etwas entgegenzusetzen“, meint der Direktor von Analisi Difesa, der keine Möglichkeiten für ukrainische Rückeroberungen sieht. Auf mögliche Verhandlungen angesprochen, betont Gianandrea Gaiani, dass die russischen Forderungen – Abtretung der Krim und der Ostukraine samt Neutralisierung der Ukraine – bekannt seien, es aber zweifelhaft sei, ob Putin überhaupt an Verhandlungen interessiert ist.

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In der Ukraine selbst herrscht große Verbitterung. Viele Ukrainer glauben, dass ihr Land in Stich gelassen werde und jenseits von schönen Worten, Absichtserklärungen und Versprechungen dazu gezwungen werden solle, mit Putin in Verhandlungen zu treten. Die Ukraine kann diesen Krieg aber nur gewinnen, wenn sie weiterhin nicht nur finanzielle, sondern vor allem auch massive militärische Unterstützung erhält.

Andere Militärexperten glauben allerdings durchaus noch, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann und blicken auf die Erfolge, die das Land bei seiner Abwehr der russischen Invasion bisher verbucht hat. Die Erkenntnis der Notwendigkeit, mehr Waffen zu liefern, setze sich im Westen langsam durch.