Coronavirus bereits sei Ende Dezember in der Lombardei verbreitet

Phase Null: “Verborgene” Covid-19-Epidemie schon früh aktiv

Freitag, 01. Mai 2020 | 08:06 Uhr

Von: ka

Mailand – Nach der Auswertung von Patientenbefragungen, statistischen Erhebungen und Umfragen unter Hausärzten verdichtet sich der Verdacht zur Gewissheit, dass der Coronavirus vielleicht schon ab Ende Dezember aber sicherlich bereits im Januar in der Lombardei verbreitet war. Diesen Erkenntnissen zufolge waren bereits vor dem Auftreten des „Patienten eins“ in Codogno rund 1.200 Lombarden SARS-CoV-2-positiv. Die relativ früh auftretende, „verborgene“ Covid-19-Epidemie könnte zum Teil sowohl den verheerenden Epidemieverlauf in der Lombardei als auch den Südtiroler Corona-Ausbruch in Gröden erklären.

ANSA/FILIPPO VENEZIA

„Es begann mit etwas Fieber. Es war der 22. Dezember. Dann stieg es. Am Abend des 26. Dezember hatte ich 39 Grad Fieber“, so eine 41-jährige Frau aus Mailand gegenüber dem „Corriere della Sera“. Die Mailänderin verständigte umgehend ihren Arzt. Obwohl die 41-Jährige mit Antibiotika therapiert wurde, nahm die Krankheit, die von allen für eine Grippe gehalten wurde, einen immer schwereren Verlauf. Während das Fieber in Schüben immer wieder zurückkehrte, litt die Frau ab Anfang Januar im Bereich zwischen den Rippen und dem Rücken unter starken Schmerzen. Zu diesen Symptomen gesellten sich schmerzhafte Hustenanfälle hinzu.

Lo studio: c'erano 1.200 lombardi positivi prima del «Paziente 1»

Pubblicato da Corriere della Sera su Mercoledì 29 aprile 2020

Die radiologischen Untersuchungen bestätigten den Verdacht einer weit fortgeschrittenen Lungenentzündung. Bis zur Heilung der 41-jährigen Patientin, die am 5. Februar von einem Röntgenbild bestätigt wurde, kamen drei verschiedene Antibiotika zum Einsatz. Während des gesamten Monats, als Covid-19 noch unbekannt oder eine ferne, fremde Bedrohung war, wurde die Frau nie befragt oder auf SARS-CoV-2 getestet.

Um das Vorhandensein von Coronavirus-Antikörpern herauszufinden, wurde vor einigen Tagen dieselbe Patientin einem serologischen Test unterzogen. Während die Immunglobuline vom Typ M(IgM), die in der Frühphase einer Ansteckung auftreten, negativ waren, waren die Immunglobuline vom Typ G(IgG) positiv. Da die IgG im Gegensatz zu den IgM erst Wochen nach der Ansteckung vom Immunsystem gebildet werden, und die Patientin aussagt, nach dem 5. Februar unter keinen weiteren Krankheiten mehr gelitten zu haben, deutet alles mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Corona-Erkrankung hin.

Forse la donna ha contratto il virus quando l’epidemia era «sommersa»

Pubblicato da Corriere della Sera su Mercoledì 29 aprile 2020

Bei der Mailänder Frau handelt es sich um keinen Einzelfall. Ihre Krankheit reiht sich unter vielen „abnormalen Lungenentzündungen“ ein, die von den Ärzten zwischen Ende Dezember und Anfang Februar festgestellt wurden. Auch mehr als nur ein Kinderarzt berichtet im Rückblick, ab Anfang des Jahres unter seinen kleinen Patienten verdächtige Pneumonien entdeckt zu haben.

ANSA/Tiziano Manzoni

Eine kurz vor der Veröffentlichung stehende Studie, die von Experten der Taskforce der lombardischen Gesundheitsfürsorge erstellt wurde, nimmt die sogenannte Phase Null – also jenen Zeitraum, als der Coronavirus in Italien noch nicht bekannt war und sich im Verborgenen ausbreitete – näher in Augenschein. Insgesamt wurden 5.800 positiv Getestete nach ihren persönlichen Kontakten und dem ersten Auftreten von typischen Covid-19-Symptomen befragt. Aus den Antworten wurden nach einer eingehenden medizinstatistischen Analyse Rückschlüsse auf die Frühphase der Epidemie, die den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 19. Februar umfasst, gezogen. Natürlich – so der Epidemiologe Marcello Tirani, der die Studie betreut – kann aufgrund der mehr oder weniger genauen Antworten kein exaktes Datum genannt werden, aber alle Ergebnisse weisen auf eine sehr frühe Verbreitung des Coronavirus in der Lombardei hin.

Der Studie zufolge waren zum Zeitpunkt des ersten lombardischen Corona-Falles am 21. Februar bereits rund 1.200 Lombarden positiv. Eine wichtige Rolle spielt der sogenannte Tag Null. Beim Tag Null handelt sich um den statistisch frühestmöglichen Zeitpunkt des Auftretens von Covid-19-Symptomen bei den ersten im Februar positiv getesteten Personen. Verfolgt man den Verlauf der Kurve bis zum Tag Null – dem 26. Januar – zurück, kommt heraus, dass zu diesem Zeitpunkt in der Lombardei über 500 Coronavirus-positive Personen im Umlauf waren. Angesichts dieser statistischen Auswertung gilt es als nicht aus der Luft gegriffen, dass der Virus bereits ab Ende des letzten Jahres „frei umhergereicht“ wurde.

APA/APA (AFP)/PIERO CRUCIATTI

Aus heutiger Sicht ist das keine Überraschung. Anfang des Jahres war der Coronavirus noch eine fremde, weit entfernte und kaum beachtete Gefahr. Erst am 31. Dezember sprachen die Verantwortlichen der Gesundheitsfürsorge von Wuhan von „abnormalen Pneumonien“. Am 7. Januar teilten die chinesischen Behörden mit, einen neuen Coronavirus entdeckt zu haben. Drei Tage später verbreitet die WHO die Nachricht einer Pandemie und am 22. Januar wird Wuhan unter Quarantäne gestellt.

Aber im Januar war aus Sicht der italienischen Öffentlichkeit der Virus noch weit entfernt. Nur die Flüge von und nach China wurden eingestellt und an die Ärzte erging der Hinweis, Patienten mit Symptomen nach einem eventuellen Aufenthalt in China zu fragen. SARS-CoV-2 war aber bereits hier und genoss den Vorteil, sich hinter den Ausläufern der Grippewelle verstecken zu können. Unter diesen Voraussetzungen konnte sich der Coronavirus im Verborgenen ungehindert massiv verbreiten. Der Grundstein des späteren Desasters war gelegt.

Die relativ früh auftretende, „verborgene“ Covid-19-Epidemie könnte zum Teil sowohl den verheerenden Epidemieverlauf in der Lombardei als auch den Südtiroler Corona-Ausbruch in Gröden erklären.