Von: ka
Rom/Mailand/Neapel – Aufgrund der dramatischen Zahlen – am Dienstag wurden in Italien 21.994 neue Fälle und 221 Todesopfer gemeldet – und der um sich greifenden gewaltsamen Proteste gegen die Corona-Einschränkungen, aber besonders auch aufgrund der sich zuspitzenden Lage in den Krankenhäusern liegen in Italien die Nerven blank. Mehrere namhafte Experten sind sich nicht mehr sicher, ob die drastischen, mit dem letzten Dekret des Präsidenten des Ministerrates eingeführten Corona-Maßnahmen ausreichen werden, um die exponentiell ansteigende Kurve der Neuansteckungen abzuflachen.
Während für den Präsidenten des Obersten Gesundheitsinstituts ISS (Istituto Superiore di Sanità), Silvio Brusaferro, der Lockdown nur als Ultima Ratio gilt, die unbedingt vermieden werden muss, vertritt der oberste Verantwortliche der lombardischen Notaufnahmen, Guido Bertolini, die Meinung, dass eine gesamtitalienische „Schließung“ mittlerweile unumgänglich erscheint. „Das Einzige, was man noch tun kann, ist ein Lockdown auf gesamtstaatlicher Ebene. Die Lage in den Ersten Hilfen ist nicht nur in der Lombardei, sondern in ganz Italien dramatisch“, so Guido Bertolini.
In der Tat spitzt sich besonders in den Krankenhäusern der bereits im März von der Coronaepidemie schwer getroffenen Region die Lage dramatisch zu. Die Notaufnahmen der Spitäler von Mailand werden von Patienten, die typische Covid-19-Symptome aufweisen, regelrecht gestürmt. Einige Notaufnahmen sahen sich bereits gezwungen, für die Kranken behelfsmäßige Lazarettbetten einzurichten. Um die Krankenhäuser der lombardischen Metropole zu entlasten, wurden erste Corona-Patienten in die erst vor wenigen Tagen wiedereröffneten, in einer Messehalle eingerichteten Covid-19-Abteilung verlegt.
Walter Ricciardi, der an der römischen „Università Cattolica“ Hygiene lehrt und das Gesundheitsministerium berät, schlägt vor, über Mailand und Neapel den Lockdown zu verhängen. „Es gibt Gebiete in Italien, in denen die Übertragung des Virus exponentiell ansteigt. In diesen Gegenden sind die letzten verfügten Corona-Einschränkungen, die im Rest des Landes genügen könnten, nicht wirksam genug. In Mailand und in Neapel kann man sich mit dem Virus anstecken, wenn man eine Bar oder ein Restaurant betritt oder in den Autobus steigt. Mit einem Corona-Positiven in Kontakt zu treten, ist sehr leicht, weil das Virus stark im Umlauf ist“, so Walter Ricciardi.
Der Berater des römischen Gesundheitsministeriums gibt auch zu bedenken, dass sich sieben italienische Regionen bereits jetzt im „Roten Bereich“ befinden. Laut den Virologen und Epidemiologen, die die Regierung beraten, ist dies der Fall, wenn die Reproduktionszahl R den Wert von 1,5 überschreitet sowie die stationären Aufnahmen in den Krankenhäusern und die Belegung der Intensivstationen exorbitant zunimmt.
Wohl nicht zuletzt aus politischen Gründen will der Präsident der Region Lombardei, Attilio Fontana, aber von einem Lockdown – noch – nichts wissen.
Der angesehene Virologe Fabrizio Ernesto Pregliasco, der sonst eher als Vertreter strenger Maßnahmen gilt, zeigt sich hingegen zuversichtlich, dass „wenn wir alle zusammenhalten und im Geiste des letzten Dekrets die nicht notwendigen Kontakte einschränken, die Kurve innerhalb eines Monats nach unten gedrückt werden kann“.
In der Zwischenzeit unterstreicht der letzte Bericht des Obersten Gesundheitsinstituts ISS (Istituto Superiore di Sanità), dass im Gegensatz zum Frühjahr die asymptomatischen Coronafälle in der übergroßen Mehrheit sind. „Man kann annehmen, dass 80 Prozent von den Personen, die sich mit dem Coronavirus anstecken, kaum oder gar keine Symptome aufweisen“, so Flavio Riccardo vom ISS.
Ob Optimisten wie der Virologe Fabrizio Ernesto Pregliasco recht behalten werden oder ob eine Schließung der beiden Metropolen Neapel und Mailand unvermeidbar sein wird, werden die nächsten entscheidenden Wochen weisen.