Von: ka
Turin – Die piemontesischen Gewerkschaften der Sanitätsangestellten schlagen Alarm. Fehlender Nachwuchs und die Abwanderung von Krankenpflegern in die Arabischen Emirate führen dazu, dass in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen der norditalienischen Region Tausende von Krankenpflegern fehlen.
Geringe Gehälter, unzumutbare Arbeitszeiten und Turnusdienste, mangelnde Aufstiegschancen und magere Gehaltsvorrückungen, fehlende Wertschätzung sowie die trübe Aussicht, ein ganzes Berufsleben in maroden Krankenhäusern und Altenheimen verbringen zu müssen, sorgen nicht nur dafür, dass immer weniger junge Menschen die Studiengänge für Krankenpflege belegen, sondern auch, dass bereits berufstätige Pflegekräfte immer öfter ins Ausland abwandern.
Bei abwanderungswilligen Krankenpflegern stehen neuerdings die reichen Staaten des Nahen Ostens besonders hoch im Kurs. Mit hohen Gehältern, steuerlichen Vergünstigungen und einem Rundumsorglospaket versuchen Saudi-Arabien und die Golfstaaten, italienisches Pflegepersonal anzuwerben. „Dort bekomme ich das vierfache Gehalt und doppelt so viel Urlaub“, berichtet eine 46-jährige Krankenpflegerin, die beschlossen hat, dem Piemont den Rücken zu kehren.
Der piemontesische Regionalsekretär der Gewerkschaft der Krankenpfleger Nursing Up, Claudio Delli Carri, sieht die Abwanderung mit großer Sorge. Claudio Delli Carri erklärt, dass im Piemont derzeit rund 21.000 Krankenpfleger beschäftigt seien, zugleich aber etwa 5.000 Pflegekräfte fehlen würden. Da die angebotenen Studiengänge für Krankenpflege wenig Anklang finden, schwindet auch die Hoffnung, die unbesetzten Stellen mit jungen Nachwuchskräften füllen zu können.
Claudio Delli Carri kennt die Sorgen und Nöte der Gewerkschaftsmitglieder. Sie beklagen sich über unzumutbare Arbeitszeiten, fehlende Aufstiegsmöglichkeiten und Gehälter, die zu den niedrigsten in Europa gehören. Zugleich wird seine Gewerkschaft von Anfragen für Beratungsgespräche auswanderungswilliger Krankenpfleger überschwemmt.
Eine der Krankenpflegerinnen, deren Entschluss, die Region am Fuß der Alpen in Richtung Naher Osten zu verlassen, bereits feststeht, ist Arianna. Arianna ist 46 Jahre alt und seit 20 Jahren im öffentlichen Gesundheitswesen tätig.
„Ich bin erschöpft, weil ich meinen Sohn allein großziehen muss und dazu gezwungen bin, die Schule und seinen Sport mit Turnusdiensten von 14 Stunden Arbeit am Stück unter einen Hut zu bringen. Das Gehalt, das ich für meine Arbeit als Krankenpflegerin bekomme – 1.600 Euro im Monat, zu denen bezahlte Überstunden und einige Zuschläge hinzukommen – erscheint mir in Betrachtung meines Berufsbilds und meiner Verantwortung ehrlich gesagt als etwas mager“, so Arianna gegenüber der Turiner Ausgabe des Corriere della Sera.
„In Arabien hat man mir ein Gehalt von monatlich 5.000 Euro, einen Jahresurlaub von 63 Tagen, einen bezahlen Hin- und Rückflug pro Jahr, eine kostenlose Unterkunft, die freie Benutzung eines Fitnessstudios sowie vergünstigte Tarife für andere Freizeitaktivitäten angeboten. In Italien hingegen bekomme ich für ein Viertel dieses Gehaltsangebots nur 32 Tage Urlaub, wobei Aufstiegschancen fast völlig fehlen“, fügt die 46-jährige Krankenpflegerin hinzu.
„Zudem sind ihre Krankenhäuser neu und schön und nicht marode wie unsere. Sie geben mir auch das Gefühl, an einem Ort zu arbeiten, an dem die Qualität der Arbeit wirklich zählt. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein“, freut sich Arianna auf ihren neuen Berufsalltag in einem arabischen Krankenhaus.
„Ich habe beschlossen zu reden, weil die Menschen wissen müssen, wie es um das Sanitätspersonal, das sich um ihre Gesundheit kümmert, steht. Selbst die Weltgesundheitsorganisation WHO meint, dass wir ‚ausgebrannt‘ seien“, erklärt die 46-Jährige. Da ihr Beantragungsverfahren derzeit noch läuft, zieht sie es aber vor, anonym zu bleiben.
Auf der anderen Seite hat die Entscheidung, im Gesundheitswesen der Golfstaaten zu arbeiten, auch seine Schattenseiten. Da es sich nicht um Rechtsstaaten im westlichen Sinne handelt, riskieren Ausländer, die sich bei ihrer Arbeit echten oder vermeintlichen Verfehlungen schuldig machen, streng bestraft zu werden. Zudem ist der kulturelle Unterschied zwischen Europa und den Golfstaaten nicht zu unterschätzen. Ob Arianna fern der Heimat und ihrer Familie in einem fremden Arbeitsambiente ihr berufliches Glück finden wird, steht daher trotz des verlockenden Angebots in den Sternen.