Von: ka
Brescia – Seit einigen Monaten macht in Italien eine Sekte von sich reden, die jede Form staatlicher Autorität ablehnt. Die Sekte, die sich „Noi è Io sono“ („Wir sind Ich bin“, Anmerkung der Redaktion) nennt, ähnelt in gewisser Hinsicht den Reichsbürgern, mit denen die „Wir sind Ich bin“-Anhänger gemeinsam haben, dass sie den Staat und seine Gesetze nicht anerkennen.
Aus diesem Grund glauben die Sektenmitglieder auch, weder Steuern zahlen zu müssen, noch andere Pflichten zu haben. Da aus ihrer Sicht jegliche Art von staatlicher Zugehörigkeit und Einflussnahme nichts anderes als eine „behördliche Bevormundung“ ist, fabrizieren sich die Sektenanhänger auch ihre eigenen Ausweispapiere und Führerscheine.
Die bis dahin unbekannte „Wir sind Ich bin“-Sekte geriet das erste Mal ins Rampenlicht der italienischen Öffentlichkeit, als eine Frau, die in Roè Volciano westlich des Gardasees von der Lokalpolizei angehalten worden war, den verdutzten Beamten einen selbst hergestellten „Führerschein“ vorlegte, den sie sich nach der Anleitung ihrer Sekte selbst ausgestellt hatte. Zu ihrem Erstaunen stellten die Polizisten fest, dass der handgefertigte und mit einem Foto der Frau versehene „Universalführerschein“, der die Inhaberin angeblich dazu berechtige, Motorräder, Kraftfahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge und dergleichen zu lenken, mit ihrem eigenen Blut gestempelt war. Das Autobüchlein hingegen war echt, war aber bereits im Jahr 2021 verfallen.
Nach diesem kuriosen Vorfall leiteten die Ordnungskräfte Nachforschungen ein. Sie stellten fest, dass die 65-jährige Autolenkerin Anhängerin einer Sekte ist, die sich „Noi è Io sono“ („Wir sind Ich bin“, Anmerkung der Redaktion) nennt. Bei der Sekte, die im Stiefelstaat etwa 10.000 Anhänger zählt, handelt es sich um den italienischen Ableger der amerikanischen „One People“-Sekte. Die Mitglieder leben in einer Art Parallelwelt und hängen fast jeder Verschwörungstheorie – von der „Impfstoffverschwörung“ über die angeblich vorhandene „Weltregierung“ bis hin zur Leugnung des Klimawandels – an. Auch wenn sie diese Zurechnung nicht mögen und sich selbst lieber als „eine Gemeinschaft von lebendigen und selbstbestimmten Männern und Frauen“ bezeichnen, handelt es sich bei „Wir sind Ich bin“ um eine Art Verschwörungssekte.
Dem Credo ihrer Mitglieder zufolge besitzt jeder von uns einen „Strohmann“, der von den Eltern mit der Unterzeichnung der Geburtsurkunde geschaffen worden sei. Dieser „Strohmann“ diene dem Staat, der nichts anderes als ein Privatunternehmen sei, dazu, die Menschen zu versklaven, um ihnen Steuern und Gebühren abzupressen. Diese „Sklaverei“ lehnt die Sekte ab, die von ihren Mitgliedern verlangt, nur nach einem Naturgesetz zu leben.
Die Mitglieder halten untereinander über Telegram und Videokonferenzen Kontakt, aber die Polizei konnte feststellen, dass sie sich auch treffen. Erst vor wenigen Wochen fand in einem Bauernhof bei Mailand ein Informationstreffen „mit Männern und Frauen auf dem Weg des Erwachens“ statt.
Im Gegensatz zu den Reichsbürgern fielen die „Wir sind Ich bin“-Anhänger zwar bisher nie durch Gewalttaten auf, aber ihr Verhalten, jegliche Form staatlicher Autorität abzulehnen, schafft dennoch Probleme. Wenn Carabinieribeamte oder Gerichtsvollzieher bei ihnen zu Hause auftauchen, um sie an die Einhaltung der Gesetze oder an die Begleichung unbezahlter Rechnungen zu erinnern, helfen sie sich gegenseitig. Dem Verlauf eines Telegram-Chats zufolge, wo sie sich am liebsten untereinander austauschen, soll es einem Sektenanhänger beispielsweise gelungen sein, keine Autobahnmaut zu bezahlen. Bedenklich ist, dass sich die Sektenmitglieder durch ihre Ablehnung, Rechnungen zu bezahlen, selbst viele Probleme einhandeln. Im Chat beklagt sich eine Frau darüber, dass ihr nach dem Bankkonto und ihrem Wagen die Wohnung gepfändet worden sei. Gefährdete Personen können auf diese Weise aber ihr ganzes Hab und Gut verlieren.
Es scheint, dass sich in der Umgebung von Brescia besonders viele „Wir sind Ich bin“-Anhänger befinden. Nachdem ihnen der Energieversorger E.On Energia wegen angeblicher Nichtbezahlung von Rechnungen den Strom abgeschaltet hatte, suchten zwei Anhänger samt zwei Zeugen die Carabinieristation von Provaglio d’Iseo auf, um Anzeige zu erstatten. Die Carabinieri staunten nicht schlecht, als sie die beiden „Universalpässe“ sahen, die die Frau und der Mann angeblich mit ihrem eigenen Blut unterzeichnet hatten.
Da sie mit der Anzeige scheiterten, schickten sie dem Präfekten und dem Quästor von Brescia, den beiden Bürgermeistern von Iseo und Provaglio d’Iseo, den Carabinieri sowie dem Gas- und Elektrizitätsanbieter „wegen Verübung von Sklaverei gegen einen lebenden Mann und eine lebende Frau“ eine „Rechnung“, die mit roter Farbe unterschrieben war.
„Wer einen lebenden Menschen dazu verleitet, sich gegenüber einer privatrechtlichen Gesellschaft auszuweisen, begeht eine Straftat“, hieß es in der „Rechnung“, mit der die „Wir sind Ich bin“-Anhänger die Adressaten dazu auffordern, die verlangte Summe wahlweise in Form von „99,9 Prozent Feinunzen reiner Silberwährung“ oder in Form von „Lebensenergie“ zu bezahlen.
Bis jetzt scheint es sich bei „Wir sind Ich bin“ eher um ein Kuriosum zu handeln. Da sie keine Rechnungen bezahlen oder mit ungültigen Ausweisdokumenten oder Führerscheinen erwischt werden, riskieren die Anhänger bisher „nur“ die Beschlagnahme ihrer Fahrzeuge, die Pfändung ihrer Vermögen oder den Verlust der Versorgung mit Wasser, Strom und Gas, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass es eines Tages auch zu Gewalttaten kommen könnte. Daher ist es notwendig, diese sowie ähnliche sektenähnliche Gruppierungen unter Beobachtung zu halten.