Israelische Soldaten auf einem Panzer im Ostteil von Rafah

Angst vor israelischem Militärangriff auf Rafah wächst

Sonntag, 12. Mai 2024 | 09:29 Uhr

Von: APA/AFP/dpa

Israels Armee hat die Menschen in Rafah zum Verlassen weiterer Stadtgebiete aufgefordert und damit die Sorge vor einer Ausweitung des Militäreinsatzes in der südlichsten Stadt des Gazastreifens vergrößert. Rund 300.000 Menschen in Rafah folgten laut Armeeangaben vom Samstag bereits der Aufforderung, die Stadt im südlichen Gazastreifen in Richtung einer “humanitären Zone” zu verlassen. Das Weiße Haus hatte am Freitag erklärt, es beobachte die Situation “mit Sorge”.

Man sehe aber noch keine “größere Bodenoffensive” in Rafah, hieß es in Washington. EU-Ratspräsident Charles Michel bezeichnete die von Israel angeordnete Evakuierung der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen als “inakzeptabel”. Im Onlinedienst X erklärte er:. “Wir rufen die israelische Regierung auf, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren und fordern sie auf, keine Bodenoperation in Rafah durchzuführen.”

Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz warnte die israelische Regierung am Samstag vor einer Militäroffensive auf Rafah. Ein derartiges Manöver wäre “unverantwortlich”, sagte er bei einer Veranstaltung des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND). Er glaube nicht, dass dies “ohne unglaubliche menschliche Verluste” möglich sei.

Seit Montag hätten sich etwa 300.000 Menschen aus dem Gazastreifen “auf den Weg in die humanitäre Zone in al-Mawasi” gemacht, erklärte die israelische Armee am Samstag. Die islamistische Hamas veröffentlichte unterdessen erneut ein Video von einer in den Gazastreifen verschleppten Geisel.

Zuvor hatte die Armee die zu evakuierenden Stadtteile in Ost-Rafah im Rahmen ihres Vorgehens gegen die radikalislamische Palästinenserorganisation erweitert. Die Armee forderte die Bewohner von Rafah auf, Gebiete im Osten und im Zentrum der Stadt “unverzüglich” zu verlassen. In der vom israelischen Armeesprecher Avichai Adraee am Samstag auf Arabisch im Onlinedienst X veröffentlichten Aufforderung hieß es, diese seien “in den vergangenen Tagen und Wochen Schauplatz terroristischer Aktivitäten der Hamas gewesen”.

Bewohner in Rafah sagten, sie seien von der israelischen Armee über X sowie Text- und Sprachnachrichten auf ihren Mobiltelefonen aufgefordert worden, sich in die “humanitäre Zone” in der rund zehn Kilometer entfernten Ortschaft al-Mawasi an der Küste zu begeben.

Auf Bildern in Onlinenetzwerken waren Flugblätter mit der jüngsten Aufforderung zu sehen, welche die Armee nach eigenen Angaben in den betroffenen Gebieten verteilt hatte. Demnach betreffen die Evakuierungen auch Teile des Flüchtlingslagers Shabura sowie die Ortsteile Jeneina und Khirbet al-Adas.

Armeesprecher Adraee zufolge gilt die Evakuierungsaufforderung auch für Menschen in Jhabalija und Beit Lahia im nördlichen Gazastreifen. Zur Begründung hieß es in der separaten Erklärung, sie befänden sich “in einer gefährlichen Kampfzone”. “Die Hamas versucht, ihre Fähigkeiten in diesem Gebiet wieder aufzubauen”, erklärte Adraee. Daher werde die Armee “mit großer Kraft gegen die terroristischen Organisationen in diesem Gebiet vorgehen”.

Die israelische Armee hatte am Montag die Bewohner von Ost-Rafah zum Verlassen des Gebiets aufgefordert. Auch leitete sie nach eigenen Angaben einen Evakuierungseinsatz “von begrenztem Umfang” ein. Der israelische Regierungschef Benjamin Netanyahu hält ungeachtet des internationalen Drucks an den Plänen zu einer Bodenoffensive in Rafah fest.

Israel sieht Rafah als die letzte Bastion der radikalislamischen Hamas. Der Einsatz zielt israelischen Angaben zufolge zudem darauf ab, die dort vermuteten Geiseln aus der Gewalt der Hamas zu befreien. In der Grenzstadt zu Ägypten haben mehr als eine Million Menschen Zuflucht vor den Kämpfen gesucht.

Das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA äußerte sich auf X “äußerst besorgt darüber, dass diese Evakuierungsaufforderungen sowohl das Zentrum von Rafah als auch Jabalija betreffen”. Familien würden überall in der Stadt ihre Sachen packen, schrieb eine UNRWA-Mitarbeiterin am Samstag auf X. “Die Straßen sind deutlich leerer.”

Derweil gab die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde bekannt, dass seit Ausbruch des Gaza-Kriegs 34.971 Palästinenser getötet und weitere 78.641 verletzt worden seien. In den letzten 24 Stunden kamen demnach 28 Menschen ums Leben, weitere 69 erlitten Verletzungen. Auch diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen. Die Behörde unterscheidet bei ihren Angaben nicht zwischen Zivilisten und bewaffneten Kämpfern. Israel zweifelt die Zahlen an.

Die Vereinigten Arabischen Emirate erteilten indes einer von Netanyahu ins Spiel gebrachten Beteiligung an einer künftigen lokalen Zivilverwaltung im Gazastreifen unter israelischem Sicherheitsregime eine klare Absage. Sein Land werde sich in keine Pläne hereinziehen lassen, um “Deckung zu geben für Israels Präsenz im Gazastreifen”, stellte der emiratische Außenminister Abdullah bin Sajid am Samstag bei X klar.

Netanyahu hatte kürzlich in einem Interview eines US-Fernsehsenders gesagt, dass es nach einer Niederlage der Hamas vermutlich “irgendeine Art Zivilverwaltung” geben werde, “möglicherweise mithilfe der Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien und anderen Ländern”. Die Emirate hatten im Jahr 2020 als erster Golfstaat diplomatische Beziehungen mit Israel aufgenommen.

Am Samstag veröffentlichte der bewaffnete Arm der Hamas erneut ein Geisel-Video. Die im Onlinekanal Telegram veröffentlichte Elf-Sekunden-Aufnahme der Essedine al-Kassam-Brigaden zeigt einen abgemagerten Mann mit geschwollenem Auge vor einer weiß gekachelten Wand, der offenbar unter Zwang spricht. In einem Text darunter ist zu lesen: “Die Zeit läuft ab. Eure Regierung lügt.” Um welche israelische Geisel es sich handelt, verlautete nicht.

Israelische Medien äußerten sich zunächst nicht zu dem neuen Clip. Die Hamas hat in der Vergangenheit ähnliche Geisel-Videos veröffentlicht, zuletzt im April. Israel verurteilt diese Veröffentlichungen als psychologische Kriegsführung.

Unterdessen gingen die Kämpfe im Gazastreifen weiter. AFP-Journalisten berichteten am Samstag von israelischen Angriffen vom Süden bis zum Norden des Gebiets. Nach Angaben eines Krankenhauses wurden mindestens 21 Menschen bei Angriffen im Zentrum des Gazastreifens getötet. In Rafah sahen Augenzeugen intensive Luftangriffe nahe des Grenzübergangs zu Ägypten.

Am Freitag hatte die israelische Armee erneuten Raketenbeschuss vom Gazastreifen aus gemeldet. Neun Raketen seien aus der Region Rafah und fünf weitere aus dem Zentrum des Gazastreifens auf die etwa 40 Kilometer entfernte südisraelische Stadt Be’er Sheva abgefeuert worden, teilte die Armee mit.

Der israelische Militäreinsatz im Gazastreifen war durch den beispiellosen Großangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober ausgelöst worden. Die von der EU und den USA als Terrororganisation eingestufte Hamas und weitere militante Palästinensergruppen waren damals in israelische Orte eingedrungen und hatten Gräueltaten an Zivilisten verübt.

Nach israelischen Angaben töteten sie etwa 1.170 Menschen, zudem verschleppten sie rund 250 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen. 128 Geiseln sind nach israelischen Angaben noch immer in der Gewalt der Hamas und weiterer militanter Palästinensergruppen. 36 von ihnen sollen bereits tot sein.