Von: mk
Brüssel/Kiew – Seine Aussagen zu Atomwaffen für die Ukraine beim EU-Gipfel in Brüssel haben für Aufruhr gesorgt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte erklärt, dass die Ukraine entweder Mitglied einer Allianz wie der NATO werde oder über Atomwaffen verfügen müsse, um sich in Zukunft dauerhaft vor Russland zu schützen.
Sogar engste Verbündete der Ukraine reagierten zunächst verstört. Ursprünglich waren die Worte so verstanden worden, dass Selenskyj einen Ausstieg aus dem Atomwaffensperrvertrag, den die Ukraine im Jahr 1994 unterzeichnet hat, einem NATO-Beitritt vorziehe. Das Abkommen ist ein internationaler Vertrag aus dem Jahr 1968, der das Verbot der Verbreitung und die Verpflichtung zur Abrüstung von Kernwaffen sowie das Recht auf die „friedliche Nutzung“ der Kernenergie zum Gegenstand hat. Ein Land, das den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet hat, kann seinen Beitritt mit einer Frist nur 90 Tagen aufkündigen.
Einige befürchteten, Selenskyj habe mit seiner Äußerung Kreml-Despot Wladimir Putin einen Propaganda-Sieg beschert. Dass dieser aufgeschreckt wurde, zeigt dessen prompte Reaktion. Noch nie hat der Kreml so schnell auf eine Aussage des ukrainischen Präsidenten reagiert. Zunächst sagte Putin, Russland müsse seine Bemühungen um den Sieg im Krieg verdoppeln. Außerdem fügte Putin hinzu, Russland werde niemals zulassen, dass die Ukraine eine Atomwaffe besitzt.
Militärstrategen zufolge klingt daraus jedoch vor allem Angst hervor. Wie Militäranalyst Jon Champs auf der Plattform X erklärt, ist die Ukraine vermutlich die erste von vielen Nationen, die begreift, dass es nur einen Weg gibt, eine Atommacht in die Schranken zu weisen – „und das ist, selbst eine Atommacht zu sein“.
Selenskyj habe es gewagt, eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts laut auszusprechen. „Tatsache ist, dass Russland die Androhung von Atomwaffen verwendet hat und weiterhin verwendet“, schreibt Champs. Putin habe damit die NATO-Nationen eingeschüchtert, von denen drei selbst Atomwaffen haben, und sie davon abgehalten, verschiedene Waffentypen zu liefern. „Diese erpresserische Taktik verzögerte die Lieferung wichtiger Waffen um Monate und Jahre. Heute verhindert sie, dass die Amerikaner den Einsatz westlicher Langstreckenwaffen auf russischem Staatsgebiet selbst nicht erlauben. Jeder hat gesehen, dass die bewusste Anwendung der erpresserischen Macht von Atomwaffen einen Einfluss auf die eigenen Feinde hat, auch wenn sie schließlich ihre Ängste überwinden“, erklärt Champs.
Er ist davon überzeugt: Hätte die Ukraine auch nur 100 Atomwaffen gehabt, wäre Russland nicht mit solch Ambitionen wie der vollständigen Besetzung und der Einverleibung eines Vasallenstaats in sein Nachbarland einmarschiert.
Selenskyj hatte am Donnerstag beim EU-Gipfel gesagt: „Entweder verfügt die Ukraine über Nuklearwaffen, die ihr als Schutz dienen, oder sie muss Mitglied in einer Allianz sein.“ „Wir kennen keine Allianz, die so effizient ist“ wie die NATO, betonte er. Demnach bevorzugt Selenskyj eine NATO-Mitgliedschaft.
„Aber wenn wir die Ukraine im Stich lassen, wenn wir sie einer möglichen russischen Aggression erneut aussetzen – und wir wissen, dass sie kommen wird – dann will er die ultimative Garantie dafür, dass es nicht passiert. Und das ist ein ukrainischer nuklearer Abschreckungsfaktor. Was ist daran so unvernünftig?“, fragt Champs.
Die Ukraine verfügte nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 über das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt. Nach dem Erhalt von Sicherheitsgarantien durch Russland und die USA gab sie ihre Atomwaffen an Russland ab. Diese Sicherheitsgarantien, bekannt als das Budapester Memorandum, verlangten von den Unterzeichnern den Respekt der territorialen Integrität und Unabhängigkeit der Ukraine und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken.
Mit der Invasion in die Ukraine und dem nun seit über zwei Jahren andauernden Angriffskrieg verstößt Russland gegen den Vertrag ein weiteres Mal nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Schwarzmeerhalbinsel Krim.