Von: ka
Kiew – Nach dem Eklat im Weißen Haus, dem Stopp von Waffenlieferungen und zuletzt dem Verbot der Weitergabe von Geheimdienstinformationen fürchtet die ukrainische Führung, dass der Durchhaltewille der Soldaten an der Front und der Zivilbevölkerung, die unter den ständigen russischen Drohnen- und Raketenangriffen leidet, immer schneller bröckelt.
Ein deutliches Zeichen dafür, dass immer weniger ukrainische Männer im wehrfähigen Alter bereit sind, sich an die Front einberufen zu lassen, sind die zunehmenden Angriffe auf ukrainische Rekrutierungsbüros.
Der bisher schwerste Vorfall dieser Art ereignete sich in Poltawa, wo ein Rekrutierungsoffizier ermordet wurde. Der getötete Offizier wurde von einem ukrainischen Zivilisten erschossen, der einen Verwandten vor der Zwangsmobilisierung retten wollte.
Für die ukrainische Militärführung war es der bisher schlimmste Weckruf. „Die Ermordung von Militärangehörigen ist eine rote Linie, die nicht überschritten werden darf“, betont Mykhailo Drapatyi, Kommandeur der ukrainischen Bodentruppen. Doch der ukrainische General weiß, dass die Ereignisse der letzten Tage nicht gerade jene Kriegsbegeisterung wecken, die für eine erfolgreiche Rekrutierung notwendig ist.
Nach den fast täglichen Meldungen, dass die USA der Ukraine buchstäblich den Teppich unter den Füßen wegziehen wollen – nach dem Eklat im Weißen Haus wurden ein Waffenlieferungsstopp und zuletzt ein Verbot der Weitergabe von Geheimdienstinformationen verhängt – herrscht im Kreml eitle Freude. Um die aus ihrer Sicht guten Nachrichten aus Amerika nutzen zu können, haben die russischen Generäle eine Verstärkung der Militäroperationen angeordnet.
Die Ukrainer hingegen fühlen sich verraten und verkauft. Die Frustration und das Entsetzen der zutiefst enttäuschten ukrainischen Bevölkerung, nach drei Jahren Krieg trotz des Haltens der Front im Stich gelassen zu werden, beginnt sich auch unter den Männern an der Front auszubreiten. Im Gegensatz zur russischen Armee, die aus dem Vollen schöpfen kann und nun die Möglichkeit hat, einen neuen Durchbruch zu versuchen, zwingt die Ungewissheit über die Munitionsversorgung die ukrainischen Kommandeure, so viel Munition wie möglich zu sparen.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass es für Moskau in den letzten Monaten alles andere als nach Plan lief. Das renommierte „Institute for War Studies“ in Washington, das in den letzten drei Jahren die Bewegungen vor Ort weder über- noch unterschätzt hat, berichtet, dass die russischen Streitkräfte im Februar weniger Fortschritte gemacht haben als in den Monaten zuvor. Dennoch rückt die russische Armee weiter auf Pokrovsk vor, einen logistischen Knotenpunkt in der Region Donetsk, wobei die russischen Angreifer versuchen, die Stadt von Süden her zu umgehen.
Bitter für die Ukrainer ist, dass es der russischen Armee immer wieder gelingt, ukrainische Rekrutenausbildungszentren zu treffen. Der schwere russische Raketenangriff auf ein Rekrutenausbildungszentrum in der Dnipro-Region am 1. März ist einer der schwersten Schläge, die die Ukraine in jüngster Zeit erlitten hat. Schlecht für den Durchhaltewillen der Ukrainer ist, dass der Angriff die Debatte über die Vertrauenswürdigkeit der militärischen Führung neu entfacht hat.
Mykhailo Drapatyi, Kommandeur der ukrainischen Bodentruppen, ist wütend. Er fürchtet, dass die Wahrheit über den Angriff auf die Rekruten „im Nebel der Bürokratie“ verborgen bleibt, verspricht aber, dass er das verhindern will. „Der Krieg erfordert schnelle Entscheidungen, Verantwortlichkeit und neue Sicherheitsstandards, sonst verlieren wir mehr als wir haben“, sagte er vor den Medien. Das russische Verteidigungsministerium veröffentlichte ein Video, das den Angriff einer ballistischen Rakete vom Typ Iskander-M auf ein Trainingslager in der Region Dnipropetrowsk zeigt.
Die ukrainischen Ermittlungsbehörden erklärten, sie hätten eine strafrechtliche Untersuchung wegen Fahrlässigkeit eingeleitet. Nach Angaben aus Kiew wurden Streubomben eingesetzt, über die Art der Waffen und die genaue Zahl der Opfer – nach inoffiziellen Quellen sollen Dutzende Rekruten und sogar ausländische Militärausbilder schwer verletzt oder getötet worden sein – wird jedoch geschwiegen.
Das Ausbildungszentrum war schlecht getarnt, öffentlich bekannt und von außen einsehbar. Für russische Spione und Informanten war es daher ein Leichtes, Informationen über die untergebrachten Truppen und die Koordinaten des Standortes an die russische Armee weiterzugeben. Zwei hohe Offiziere wurden wegen „möglicher Fahrlässigkeit“ vom Dienst suspendiert.
General Oleksandr Syrskyi, Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, ist bei den Soldaten an der Front nicht sonderlich beliebt. Sie nennen ihn abwechselnd „Schlächter“ oder, etwas freundlicher, „Mann ohne Plan“. „Nach drei Jahren reicht es uns nicht mehr zu wissen, dass wir für die Freiheit kämpfen. Wir wollen wissen, welches strategische Ziel wir erreichen sollen“, so der Tenor der ukrainischen Frontsoldaten.
„Manchmal schicken sie uns ins Feld, ohne uns zu sagen, ob wir vier verlassene Häuser einnehmen und dann in eine bestimmte Richtung weitergehen sollen, oder ob wir nur unsere Stellung halten sollen. Warum sagen sie uns das nicht? Wir riskieren den Tod und sie vertrauen uns nicht“, lassen die Soldaten ihrer Enttäuschung freien Lauf.
Die schlechten Nachrichten aus Washington, die sich in Windeseile in den sozialen Netzwerken der Ukraine verbreiten, sind nicht nur Gift für die Moral der ukrainischen Soldaten, sondern beschädigen auch den Durchhaltewillen an der Heimatfront.
Ein untrügliches Zeichen für die wachsende Unruhe in der Bevölkerung ist die Tatsache, dass die Rekrutierer mit immer brutaleren Methoden versuchen, neue Soldaten für die Front zu gewinnen.
Um den Rekrutierern zu entgehen, versuchen Männer im wehrfähigen Alter alles, um nicht in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Es ist kein Zufall, dass in Großstädten wie Odessa die Wochenendvormittage die trostloseste Zeit sind. Es hat sich herumgesprochen, dass die Rekrutierer gerade dann verstärkt kontrollieren, wenn viele Menschen nicht bei der Arbeit sind. Bis die Bestätigung per Whatsapp eintrifft, dass die Razzien beendet sind, ist auf den Straßen kaum jemand zu sehen.
Nachdem Zehntausende ukrainischer Männer im Krieg gefallen sind, sind die Freiwilligenmassen der ersten Kriegsmonate nur noch eine ferne Erinnerung. Vor allem nach dem angekündigten Stopp der amerikanischen Waffenlieferungen sind immer weniger Männer dazu bereit, die Uniform anzuziehen.
Kiew fürchtet nach den Hiobsbotschaften aus den USA innere Unruhen und einen möglichen Zusammenbruch der Front. Der bittere Gedanke, nach drei Jahren erfolgreichen Widerstands gegen einen übermächtigen Feind verraten und verkauft worden zu sein, wirft einen dunklen Schatten auf die Ukraine und ihre leidgeprüften Menschen.
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