Prof. Christian Wiedermann informiert

Corona-Herbst 2023: Neue Varianten, Impfungen und Masken

Mittwoch, 04. Oktober 2023 | 19:24 Uhr

Von: ka

Bozen – Im vierten Corona-Herbst warnt die Weltgesundheitsorganisation WHO vor der Zunahme der Krankenhauseinlieferungen wegen COVID-19 – vor allem in Europa. Auch in Südtirol zirkulieren die Corona-Varianten Eris, Acrux und Pirola.

„Da es sich nicht um völlig neue Virusvarianten handelt, bleiben die derzeitigen Impfstoffe wirksam“, erklärt Prof. Dr. Christian Wiedermann, Koordinator der Forschungsprojekte des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen. Er empfiehlt Risikogruppen, sich gegen Corona und Grippe impfen zu lassen. Zudem weist Prof. Wiedermann auf das Risiko einer Dreifach-Epidemie aus COVID-19, Influenza und RSV hin: „Jetzt ist es notwendig, das öffentliche Gesundheitswesen und die Allgemeinmedizin zu stärken.“

Wie gefährlich sind die neuen Corona-Varianten Eris, Acrux und Pirola?

Seit Sommer 2023 verbreiten sich in Europa zwei Varianten des Corona-Subtyps Omikron: Eris (EG.5) und Acrux (XBB.2.3). „Die Variante Acrux wurde im Dezember 2022 in Indien entdeckt und entstand aus der Verbindung von zwei Omikron-Viruslinien. Seit März 2023 verzeichnet Indien eine Zunahme der Ansteckungen mit dieser Variante“, erklärt Prof. Wiedermann. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Acrux auf die Beobachtungsliste gesetzt, da sie eine hohe Infektionsgefahr birgt. Zur XBB-Linie zählt auch Eris – von der WHO als „Virusvariante von Interesse“ eingestuft. „Im Unterschied zu Acrux verbreitet sich Eris stärker und schneller und kann sich unserer Immunabwehr besser entziehen. Eris verfügt über eine zusätzliche Mutation des Spike-Proteins. Allerdings weist diese Variante keine erhöhte Krankheitsschwere auf“, fügt Prof. Wiedermann hinzu. Im Vergleich zu früheren Varianten seien die beiden XBB-Varianten nicht als ‚gefährlicher‘ einzustufen. Im Juli 2023 wurde die Variante Pirola (BA.2.86) erstmals in Dänemark nachgewiesen. Sie weist wie Omikron mehr als 30 Mutationen auf. Die WHO hat Pirola als „Variante unter Beobachtung“ eingestuft. Das ist die niedrigste von drei Stufen. „Kürzlich ist die Pirola- Variante auch in Italien aufgetreten. Expert:innen untersuchten die Reihenfolge der Bausteine im Gencode des Virus auf eine mögliche Impfstoff-Resistenz. Es hat viele Mutationen im Spike-Protein, die seine Fähigkeit erhöhen, das Immunsystem zu umgehen. Trotz der Mutationen bieten frühere Impfungen einen Immunschutz, der durch Auffrischungsimpfungen verstärkt werden kann. Die Symptome sind ähnlich wie bei Omikron: laufende Nase, Kopfschmerzen, Müdigkeit. Es gibt keine starken Hinweise auf eine erhöhte Gefährlichkeit, aber Vorsichtsmaßnahmen sind weiterhin wichtig“, sagt Prof. Christian Wiedermann. Die internationale Datenlage zum Coronavirus hat sich verschlechtert, da mittlerweile viele Staaten keine genauen Informationen über Infektionen, schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle zur Verfügung stellen.

Wirken die aktuell eingesetzten Impfstoffe gegen diese Varianten?

Viele Bürger:innen zweifeln im Herbst 2023 an der Wirksamkeit der Impfstoffe. So wird in Frage gestellt, ob diese Impfstoffe „auf der Höhe der Zeit“ seien – sprich: ob sie auch vor den aktuell zirkulierenden Varianten Eris, Acrux und Pirola schützen. „Eine Anpassung der Impfstoffe wäre nur bei völlig neuen Varianten des Coronavirurs erforderlich“, erläutert Prof. Wiedermann, der darauf hinweist, dass internationale Expert:innen davon ausgehen, dass bisher durchgeführte Impfungen und die seit Ausbruch der Corona-Pandemie aufgebaute Immunität den meisten Menschen ausreichend Schutz bieten können – und das, obwohl beispielsweise Eris eine zusätzliche Mutation des Spike-Proteins aufweist. Trotz der neuen Varianten bleiben die Impfstoffe folglich wirksam. „Bis zum 28. Februar 2023 wurden laut Bloomberg weltweit mehr als 13 Milliarden Impfdosen gegen COVID-19 verabreicht. Dadurch konnten 20 Millionen Todesfälle verhindert werden – basierend auf einer unabhängigen mathematischen Modellierungsstudie unter Verwendung von Daten aus 185 Ländern, die meisten davon wohlhabende Länder. Weitere 600.000 Leben hätten gerettet werden können, wenn bis Ende 2021 mehr Menschen auch in weniger wohlhabenden Ländern geimpft worden wären“, unterstreicht Prof. Christian Wiedermann.

„Anfangs bestand aufgrund der Neuartigkeit der meisten Impfstoffe berechtigte Skepsis hinsichtlich möglicher Risiken. Mittlerweile kann jedoch beruhigend festgestellt werden, dass das Impfrisiko als äußerst niedrig einzustufen ist. In Österreich, wo über 21 Millionen Impfdosen verabreicht wurden, gibt es nur etwas mehr als 2.500 Schadensmeldungen, von denen nur etwa 10% einen tatsächlichen kausalen Zusammenhang mit der Impfung bestätigen. Dies unterstreicht die Sicherheit und die Effektivität der Impfstoffe“, sagt Prof. Wiedermann. „Die Verleihung des Nobelpreises für Medizin 2023 für Arbeiten zur Entwicklung von mRNA-Impfstoffen bestätigt die Erfolgsgeschichte der Impfung in der größten Gesundheitskrise der Menschheit und hebt die bedeutende Rolle der mRNA- Technologie bei der Bekämpfung von COVID-19 hervor“, so der Forschungskoordinator des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen.

Wer sollte sich im Herbst 2023 gegen Corona impfen lassen? Ist auch eine Grippe-Impfung ratsam?

„Aktuell wird empfohlen, dass sich Risikopatient:innen zusammen mit der Grippeimpfung auch gegen Corona impfen lassen sollen, um den bestmöglichen Schutz zu erhalten“, informiert auch der Südtiroler Sanitätsbetrieb. Zu den gefährdeten Gruppen zählen Über- 65-Jährige, chronisch kranke und immungeschwächte Menschen, Schwangere und Frauen nach der Geburt sowie das Gesundheitspersonal. Für sie sind Auffrischimpfungen im Herbst 2023 ratsam.

Ist das Tragen von Masken (noch) sinnvoll?

Trotz weitverbreiteter Fake News muss festgehalten werden, dass das Tragen von Schutzmasken – zumal von FFP2-Masken – im Herbst 2023 sinnvoll ist, gerade für Risikopatient:innen. „Wer jetzt beispielsweise im Zug und im Bus, im Supermarkt oder in der Wartehalle des Krankenhauses eine Maske trägt, verringert das Risiko einer Corona- Infektion“, betont Prof. Christian Wiedermann. „Die WHO hat die Wirksamkeit von Masken klar bestätigt. Je nach lokaler Infektionssituation wird das Tragen von Schutzmasken in überfüllten, geschlossenen oder schlecht belüfteten Bereichen, nach einem kürzlich erfolgten Kontakt mit COVID-19 und immer dann empfohlen, wenn ein Raum mit einer infizierten Person geteilt wird. Das gilt natürlich in besonderem Maße für all jene Personen, die aufgrund von Vorerkrankungen ein hohes Risiko für schwere

Komplikationen infolge einer Corona-Infektion aufweisen“, informiert Prof. Wiedermann. Die italienische Gesellschaft für Allgemeinmedizin SIMG rät zudem dazu, bei COVID- ähnlichen Symptomen zuhause zu bleiben und den Kontakt zu anderen Menschen zu meiden. „Mein Tipp für den Corona-Herbst 2023 lautet: Ja zum situationsabhängigen Tragen von Masken – ohne Panik, aber mit Hausverstand!“, so Prof. Wiedermann.

© Jakob Obkircher/Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen/Prof. Christian Wiedermann

Wie aussagekräftig sind aktuelle Corona-Schnelltests?

Prof. Christian Wiedermann erinnert daran, dass Selbsttests für zuhause nach wie vor in Südtirols Apotheken erhältlich sind, „doch in einem Labor durchgeführte PCR-Tests sind genauer und zuverlässiger. Bei positiven Selbsttest-Ergebnissen sollte telefonisch Kontakt mit dem Hausarzt aufgenommen werden. Bei einer Atemwegsinfektion mit Verdacht auf eine Corona-Ansteckung kann frühzeitiges Testen sinnvoll sein, denn bei Bestätigung gibt es spezifische Möglichkeiten der zuverlässig erfolgreichen Behandlung“, so Wiedermann.

Steht Südtirol im Herbst 2023 eine Dreifach-Epidemie bevor?

Europaweit warnen Expert:innen vor einer Dreifach-Epidemie aus COVID-19, Influenza und RSV (Respiratorisches Synzytial-Virus). „Die Möglichkeit eines solchen Szenarios ist durchaus gegeben – auch bei uns in Südtirol“, sagt Prof. Wiedermann. Es gehe jetzt nicht darum, die Bürger:innen zu verunsichern, sondern sie wissenschaftlich fundiert, sachlich und unaufgeregt über mögliche Risiken aufzuklären. Italiens Gesundheitsministerium warnt vor einer Dreifach-Bedrohung bestehend aus Corona, Grippe und RSV. Um den möglichen Druck auf die Krankenhäuser und auf Südtirols Praxen für Allgemeinmedizin zu verringern, ist es laut Prof. Wiedermann ratsam, schon jetzt einige Vorkehrungen zu treffen, um das Risikopotential zu verringern: „Zu diesen Vorkehrungen zählen z.B. frühzeitige Grippe- und Corona-Impfungen (zumal für Risikogruppen), das Auffüllen der Hausapotheke mit notwendigen Medikamenten und das Befolgen der – seit geraumer Zeit von vielen Menschen ausgeblendeten – AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske) in schlecht gelüfteten und überfüllten Bereichen“.

Welche Bilanz kann nach 3,5 Jahren mit Corona gezogen werden?

„Die im Wesentlichen unter staatlicher Vorgabe getroffenen Maßnahmen haben das Gesundheitssystem vor einer starken Überlastung bewahrt und somit Leben gerettet. Dennoch sollten künftige Pandemie-Planungen mögliche Kollateralschäden und auch die psychische Gesundheit und soziale Auswirkungen von Schutzmaßnahmen stärker berücksichtigen, um Negativfolgen für die Bevölkerung zu minimieren, vor allem für Kinder und Jugendliche“, sagt Prof. Wiedermann. Die wissenschaftliche Analyse und Bewertung solcher Maßnahmen sei entscheidend, um in zukünftigen Pandemien angemessene und wirkungsvolle Strategien zu entwickeln. Ein weiteres Thema, das uns begleiten werde, ist Long Covid. Nach einer Corona-Infektion kann es zu Langzeitfolgen kommen, die anhaltend unterschiedliche Organsysteme betreffen und unterschiedliche Beschwerden verursachen können. „Kürzlich hat ein Forscherteam der Universität Verona vier klinische Manifestationen von Long Covid identifiziert. Dieses Forschungsergebnis hilft uns, das Fundament für eine individuellere Herangehensweise in Diagnose und Behandlung von Long Covid zu legen. Es eröffnet auch Möglichkeiten für die gezieltere Auswahl von Patient:innen für klinische Studien, um neue Medikamente zu entwickeln, die auf die spezifischen Symptome und Mechanismen der jeweiligen Syndrome abzielen“, erläutert er. Trotz einiger Fortschritte in der Pandemie-Vorbereitung bleibe unklar, wie gut Gesundheitssysteme und Gesellschaft gegen weitere Pandemien gewappnet sind. „Ein internationales Übereinkommen zur Pandemie-Prävention könnte die globale Gesundheitssicherheit verbessern, aber die Herausforderung bleibt komplex und erfordert ständige Wachsamkeit. Zugleich besteht die Notwendigkeit, das öffentliche Sanitätswesen und die Allgemeinmedizin zu stärken. Das Augenmerk der Politik sollte daher vermehrt auf Public Health gelegt werden“, bekräftigt Prof. Christian Wiedermann.

Bezirk: Bozen