Keir Starmer bei seiner Siegesrede in London

Labour-Erdrutschsieg bringt Machtwechsel in Großbritannien

Freitag, 05. Juli 2024 | 06:37 Uhr

Von: apa

Die britischen Wähler haben die für den Brexit verantwortlichen Konservativen nach 14 Jahren abgewählt. Bei der Unterhauswahl am Donnerstag hat die sozialdemokratische Labour Party von Oppositionsführer Keir Starmer eine absolute Mehrheit erzielt. Dies stand in der Nacht auf Freitag fest, obwohl noch 185 der 650 Wahlkreise auszuzählen waren. Der konservative Premier Rishi Sunak hatte seine Niederlage zuvor bereits eingestanden und seinem Kontrahenten Starmer gratuliert.

Unmittelbar nach Feststehen des Wahlsieges wandte sich der künftige Regierungschef Starmer an seine Anhänger. “Der Wandel beginnt jetzt. Das Licht der Hoffnung scheint wieder”, betonte er. Die neue Regierung wolle nach 14 Jahren konservativer Regierung “ein neues Kapitel aufschlagen” und das politische Chaos beenden. “Wir beginnen mit dem Wiederaufbau dieser Nation.” Es wird erwartet, dass Starmer noch im Laufe des Freitags von König Charles III. mit der Regierungsbildung beauftragt wird.

Sunak hatte zuvor im nordenglischen Richmond gesagt, dass er Starmer bereits angerufen und ihm gratuliert habe. “Heute wird die Macht auf friedliche Art und Weise übergeben werden”, versprach der konservative Regierungschef. Er übernahm die Verantwortung für die massive Niederlage seiner Partei, kündigte aber zugleich an, weiterhin Parlamentsabgeordneter bleiben zu wollen. Praktisch zeitgleich wurde bekannt, dass auch Finanzminister Jeremy Hunt seinen wackelnden Unterhaussitz verteidigen konnte. Weil mit Verteidigungsminister Grant Shapps und der früheren Ministerin Penny Mordaunt zwei wichtige Kontrahenten ihre Mandate verloren, kristallisierte sich Hunt als möglicher Nachfolger Sunaks heraus.

Einer aktualisierten BBC-Prognose zufolge werden die Konservativen künftig nur noch 144 der 650 Unterhausabgeordneten stellen, während die Labour Party des künftigen Regierungschefs Starmer auf eine überwältigende Mehrheit von 410 Mandaten kommen wird. Sunak stand im Wahlkampf auf verlorenem Posten, nachdem der Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage mit seiner rechtspopulistischen Reform UK seinen Hut in den Ring geworfen hatte. Sie konnte der Regierungspartei vor allem in früheren Brexit-Hochburgen viele Stimmen abnehmen, während sich Wähler der politischen Mitte der Labour Party zuwandten.

Größter Sieger des Abends schien der frühere langjährige Europaabgeordnete Farage zu sein, der sich sieben Mal erfolglos um ein Unterhausmandat beworben hatte. Nun gelang ihm in der Brexit-Hochburg Clacton-on-Sea mit 46,2 Prozent der Stimmen der Einzug ins britische Parlament. Der konservative Amtsinhaber Giles Watling büßte dort 44 Prozentpunkte auf 27,9 Prozent ein. Vor Farage war der Tory-Überläufer Lee Anderson im mittelenglischen Ashfield zum Wahlsieger erklärt worden. Der von den Tories wegen muslimfeindlicher Äußerungen suspendierte Anderson wurde damit zum ersten gewählten rechtspopulistischen Abgeordneten Großbritanniens.

“Das ist nur der erste Schritt von etwas, das euch alle schockieren wird”, sagte Farage in seiner Siegesrede. Im rechten politischen Spektrum gebe es eine “massive Lücke, und meine Aufgabe ist es, sie zu füllen”. “Diese Labour-Regierung wird schon sehr bald in Schwierigkeiten stecken”, kündigte Farage mit Blick auf die siegreiche Oppositionspartei an. Er wolle Labour die Wähler abspenstig machen, zumal es schon bei dieser Wahl keinerlei Enthusiasmus für die Partei gegeben habe. Stattdessen sei Reform UK innerhalb von wenigen Wochen und ohne finanzielle Mittel “etwas wirklich Außerordentliches” gelungen. “Wir sind in hunderten Wahlkreisen an zweiter Stelle gelandet.”

Tatsächlich erklärte ein BBC-Moderator das starke Abschneiden von Reform UK zur “Geschichte des Abends”. Landesweit stand sie nach Auszählung von zwei Drittel der Wahlkreise bei knapp 15 Prozent der Stimmen. In zahlreichen Wahlkreisen konnte sie die Tories überflügeln und trug damit wesentlich zu Labour-Erfolgen bei. Wegen des Mehrheitswahlrechts dürfte Reform UK aber nur vier Mandate erringen. Wesentlich besser lief es für die Liberaldemokraten, die der BBC-Prognose zufolge auf 58 Sitze kamen und damit der Schottischen Nationalpartei den Rang als drittstärkste Kraft abliefen. Diese wurde auf nur acht Mandate massiv gestutzt.

Den einen oder anderen Dämpfer setzte es auch für Labour. So musste ausgerechnet Parteichef Starmer in seinem Wahlkreis wegen eines Protestvotums gegen seine Palästinapolitik einen massiven Verlust hinnehmen. Wenig Freude dürfte Starmer auch damit haben, dass sein Vorgänger Jeremy Corbyn seinen Londoner Wahlkreis Islington North als unabhängiger Kandidat verteidigten konnte. Corbyn war von 2015 bis 2020 Chef der britischen Sozialdemokraten und machte dabei keine gute Figur: Parteikollegen machten ihn mitverantwortlich für den Brexit, vier Jahre später fuhr er eine historische Wahlniederlage ein. Aus der Partei geworfen wurde er, weil er nicht energisch genug gegen antisemitische Tendenzen vorging.

Der Wahlkampf von Labour-Chef Starmer konzentrierte sich auf das Versprechen, nach 14 Regierungsjahren der Tories einen “Wandel” herbeizuführen. Damit spielte er auf die Wut vieler Briten über den schlechten Zustand des öffentlichen Dienstes etwa im Gesundheitswesen und über den seit Jahren sinkenden Lebensstandard an. Vielen Briten war es auch ein Anliegen, den regierenden Konservativen einen Denkzettel für den während ihrer Amtszeit erfolgten EU-Austritt Großbritanniens zu verpassen.

Unter ihrem damaligen Parteichef David Cameron hatten die Konservativen im Jahr 2010 die Unterhauswahl gewonnen und zunächst eine Koalition mit den Liberaldemokraten gebildet. Fünf Jahre später gewann Cameron mit dem Versprechen, ein EU-Austrittsreferendum abhalten zu wollen, die absolute Mehrheit. Das Referendum im Juni 2016 ging verloren, unter anderem wegen des Einsatzes von Farage und des damaligen Londoner Bürgermeisters Boris Johnson für die Austrittsbefürworter. Damit begann eine chaotische Phase in der britischen Innenpolitik mit mehreren Premiers-Wechseln und vorgezogenen Parlamentswahlen sowie dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Obwohl Umfragen zufolge eine Mehrheit der Briten diesen mittlerweile ablehnen, will Labour-Chef Starmer ihn nicht rückgängig machen. Der EU-Befürworter wünscht sich aber engere Beziehungen mit den EU-Staaten, allerdings ohne Mitgliedschaft in der Zollunion und dem Binnenmarkt.

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