Freigelassene Geisel Emily Damari mit bandagierter Hand

Erster Geisel- und Gefangenenaustausch in Nahost vollzogen

Montag, 20. Januar 2025 | 07:22 Uhr

Von: APA/dpa/Reuters/AFP

Im Zuge der Waffenruhe im Gazastreifen ist am Sonntag der erste Geisel- und Gefangenenaustausch vollzogen worden. Drei israelische Geiseln wurden von der radikalislamischen Hamas via Rotes Kreuz an ihre Angehörigen übergeben. Im Gegenzug entließ Israel die ersten 90 Palästinenser aus der Haft. “90 Terroristen” seien aus dem Militärgefängnis Ofer im Westjordanland und einer Haftanstalt in Jerusalem freigelassen worden, hieß es in einer Erklärung der Gefängnisbehörde.

Journalisten der Nachrichtenagentur AFP beobachteten, wie zwei Busse das Gefängnis Ofer verließen. Laut Hamas wird die nächste Geiselübergabe am kommenden Samstag erfolgen. Im Gegenzug sollen weitere palästinensische Häftlinge – darunter Frauen und Minderjährige – aus israelischen Gefängnissen entlassen werden.

Bei den am Sonntag freigekommenen Geiseln handelte es sich um die Zivilistinnen Romi Gonen (24), Emily Damari (28) und Doron Steinbrecher (31). Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie die drei Frauen in einem Fahrzeug in Gaza von einer großen Menge umringt wurden. Bewaffnete Hamas-Mitglieder begleiteten sie und drängten die Menschen zurück.

Israelische Medien: Geisel Damari verlor zwei Finger

Laut Rotem Kreuz sind die drei Zivilistinnen in guter Verfassung. Israelischen Medien zufolge verlor Emily Damari während der Entführung durch die Hamas zwei Finger. Auf Bildern von einem gemeinsamen Videocall der 28-Jährigen und ihrer Mutter mit Verwandten war auch die bandagierte Hand der jungen Frau zu sehen.

Terroristen hatten die Frauen während des Massakers in Israel am 7. Oktober 2023 verschleppt und seitdem im Gazastreifen festgehalten. Für die drei Frauen sollen rund 90 palästinensische Häftlinge freikommen.

Romi Gonen wurde vom Nova-Musikfestival nahe der Grenze zum Gazastreifen entführt und dabei verletzt. Der Vater der 24-Jährigen sagte der Nachrichtenseite ynet vor der Freilassung, die Familie habe mehr als 11.000 Stunden auf diesen Moment gewartet. Die beiden anderen Frauen wurden aus ihren Häusern im Kibbuz Kfar Aza als Geiseln entführt. Emily Damari hat neben der israelischen auch die britische Staatsbürgerschaft. Doron Steinbrecher besitzt zusätzlich die rumänische Staatsangehörigkeit.

Freudenfeiern von Angehörigen

Freunde und Angehörige reagierten mit Freudenfeiern. Auf dem “Platz der Geiseln” klatschten und jubelten zahlreiche Menschen, nachdem die Freilassung der jungen Frauen bestätigt worden war. Tausende von Menschen drängten sich auf dem Platz im Zentrum von Tel Aviv. Freunde von Emily Damari feierten ihre Freilassung nach mehr als 15 Monaten in der Gewalt der Hamas ausgelassen. Einer von ihnen nahm dabei eine Reporterin des israelischen Fernsehens auf die Schultern und tanzte, während diese weiter über die dramatischen Ereignisse berichtete.

Im Gazastreifen werden nun noch 94 aus Israel Verschleppte festgehalten. In den kommenden sechs Wochen, der ersten Phase des Deals, sollen noch 30 weitere Geiseln freigelassen werden. In einer Woche sollen zunächst weitere vier Entführte freikommen. Laut Hamas soll die nächste Übergabe am kommenden Samstag erfolgen. Im Gegenzug war vereinbart worden, dass Israel für die insgesamt 33 Geiseln 1.904 palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen entlässt.

Laut Hamas soll die nächste Übergabe am kommenden Samstag erfolgen. Im Gegenzug war vereinbart worden, dass Israel für die insgesamt 33 Geiseln 1.904 palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen entlässt.

Freilassung von österreichisch-israelischem Doppelstaatsbürger “frühestens Mitte Februar”

Laut Diplomatenkreisen steht der österreichisch-israelische Doppelstaatsbürger Tal Shoham auf der Liste jener 33 Geiseln, die mit dem aktuellen Deal freikommen sollen. Der 39-Jährige war am 7. Oktober 2023 gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Kleinkindern von der Hamas nach Gaza entführt worden. Ehefrau Adi sowie die vierjährige Tochter Yahel und der neunjährige Sohn Naveh wurden nach wenigen Monaten freigelassen.

Bis Tal Shoham freikommt, dürften noch ein paar Wochen vergehen, analysierte am Wochenende die “Kleine Zeitung”. Dem Vernehmen nach machen bei den Freilassungen Frauen und Kinder den Anfang, dann folgen Ältere und Verletzte. Shoham dürfte demnach frühestens Mitte Februar wieder nach Israel zurückkehren.

Der 39-jährige Tal Shoham kam in Israel zur Welt, seine Großmutter war allerdings eine “waschechte Wienerin”, so die “Kleine”, “die bald nach dem Anschluss von den Nazis aus Wien vertrieben wurde”. Seit mehreren Jahren haben die Nachfahren von Holocaust-Opfern Anspruch auf einen rot-weiß-roten Pass.

Herzog, Biden, Schallenberg, Scholz und Baerbock erfreut

Israels Staatspräsident Yitzhak (Isaac) Herzog sprach von einem “Tag der Freude und des Trostes”. Die drei freigelassenen Frauen seien “so geliebt und vermisst” worden. “Eine ganze Nation freut sich über eure Rückkehr”, sagte Herzog nach Angaben seines Büros. Nun beginne eine “herausfordernde Reise der gemeinsamen Genesung und Heilung”. Man fühle mit den besorgten Familien der weiteren 94 Geiseln, die noch von der Hamas im Gazastreifen festgehalten würden. “Wir werden nicht ruhen oder schweigen, bis wir alle unsere Schwestern und Brüdern aus der Hölle der Gefangenschaft in Gaza zurückbringen”, erklärte er.

Der scheidende US-Präsident Joe Biden sah einen “wichtigen Schritt”. Das Verhandlungsteam habe in den vergangenen Tagen vor der Einigung mit einer Stimme gesprochen, erklärte Biden. “Das war sowohl notwendig als auch effektiv.” Um die Waffenruhe aufrechtzuerhalten, seien jedoch “Beharrlichkeit, anhaltende Unterstützung für unsere Freunde in der Region und der Glauben an Diplomatie, gestützt durch Abschreckung” notwendig.

Österreichs aktueller Interimskanzler, Außenminister Alexander Schallenberg, reagierte erfreut: “Wir freuen uns sehr über die Freilassung der ersten drei Geiseln und die #Waffenruhe!” ließ er (im Original auf Englisch) auf der Plattform “X” wissen. “Dies war längst überfällig und kann nur der erste Schritt zur vollständigen Umsetzung der Vereinbarung sein, die zur Freilassung aller Geiseln, einschließlich Tal Shoham, führen wird. Viel mehr Hilfe muss die Menschen in #Gaza erreichen!”

Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz fordert weitere Freilassungen. “Heute ist ein Tag der Freude: Endlich sind weitere Geiseln der Hamas freigekommen und wieder mit ihren Familien vereint”, schrieb Scholz auf “X”. Diesem ersten Schritt müssten weitere Folgen. “Alle Geiseln müssen freikommen und es muss rasch mehr humanitäre Hilfe in den Gazastreifen gelangen.”

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock reagierte ebenfalls via X: “Erleichterung und Trauer liegen heute nah beieinander: Pure Erleichterung, dass Geiseln nach 471 Tagen ihren Liebsten in die Arme fallen. Aber auch Trauer über die Gewissheit, dass nicht alle das Grauen überlebt haben.” Sie denke besonders an jene immer noch Verschleppten und deren Familien.

Freikommende Palästinenser nicht an Hamas-Massaker 2023 beteiligt

Bei den Palästinensern handelt es sich nach israelischen Regierungsangaben um 1.167 festgenommene Bewohner des Gazastreifens, die nicht an dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel beteiligt waren. Dies dürfte vor allem Hamas-Kämpfer betreffen, die während der vergangenen mehr als 15-monatigen Kämpfe gefangen genommen wurden. Die anderen 737 freizulassenden Palästinenser sind Häftlinge, die etwa wegen leichterer Delikte wie Steinwürfe im Westjordanland oder illegalem Grenzübertritt sowie auch illegalen Waffenbesitzes oder anderer Gesetzesverstöße inhaftiert oder verurteilt wurden. Darunter sind aber auch Häftlinge, die wegen schwerer Straftaten wie etwa Mord einsitzen.

Der Gaza-Krieg war nach dem Überfall der Hamas und anderer terroristischer Gruppen auf Israel im Oktober 2023 mit rund 1.200 Toten ausgebrochen. Große Teile des von den Palästinensern bewohnten Gazastreifens liegen in Schutt und Asche. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde kamen mehr als 46.900 Menschen ums Leben. Wie viele davon Zivilisten und wie viele Kämpfer sind, sagt sie nicht.

Die humanitäre Lage war in Gaza schon vor Kriegsbeginn im Oktober 2023 schlecht und hat sich durch Israels massive Bombardierungen dramatisch verschärft. Mehr als 90 Prozent der gut zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens leiden nach UN-Angaben starken Hunger. Es fehlt demnach zudem an Trinkwasser, Notunterkünften und Arzneimitteln.

UNRWA: 4.000 Lastwagenladungen an Hilfsgütern für Gaza

Das Palästinenserhilfswerk der Vereinten Nationen UNRWA bereitete nach eigenen Angaben 4.000 Lastwagenlieferungen an Hilfsgütern für den Gazastreifen vor. Die Hälfte davon seien mit Lebensmitteln und Mehl beladen. Die Unterstützung der Zivilbevölkerung in dem abgeriegelten Küstenstreifen mit lebenswichtigen Gütern gestaltete sich zuletzt schwierig. Neben Sicherheitsbedenken Israels und aufwendigen Überprüfungen der Ladung waren vor allem Plünderungen durch Bewaffnete im Gazastreifen ein großes Problem.

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