Von: mk
Bozen – Die Entwicklungen in Europa, die Migration und die Rolle der Regionen waren Inhalte des Gesprächs von Landeshauptmann Arno Kompatscher mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
Bei dem Treffen im September vergangenen Jahres in Brüssel hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Landeshauptmann Arno Kompatscher die Zusage gegeben, Südtirol im Rahmen einer Europatagung einen Besuch abzustatten. Heute hat der Präsident der Europäischen Kommission sein Versprechen eingelöst und ist nach Bozen gekommen, um an der Tagung “70 Jahre Pariser Vertrag: Autonomie und Föderalismus in Europa” teilzunehmen. Um 10.30 Uhr traf Jean-Claude Juncker in der Landeshauptstadt ein, wo ihm am Silvius-Magnago-Platz ein landesüblicher Empfang bereitet wurde.
Bei einem Vier-Augen-Gespräch mit Landeshauptmann Arno Kompatscher im Landhaus 1 standen aktuelle europäische Themen und Herausforderungen im Mittelpunkt: Der Brexit wurde ebenso thematisiert wie der Stand des europäischen Einigungsprozesses. Die Gesprächspartner stimmten darin überein, dass gemeinsame europäische Entscheidungen von allen Mitgliedsländern respektiert und mitgetragen werden müssen. Hervorgehoben wurde dabei die Wichtigkeit des europäischen Zusammenhalts und der Solidarität in der EU.
EU-Kommissionpräsident Juncker erklärte, dass Europa nur dann funktionieren könne, wenn gemeinsame Beschlüsse auch gemeinsam umgesetzt werden. “Die Staaten sollen auf europäischer Ebene gefasste Beschlüsse endlich umsetzen und die Solidarität leben”, forderte Landeshauptmann Kompatscher. Präsident Juncker kündigte an, dass die Kommission Ende des Monats Vorschläge vorlegen wolle, um die europäische Verteidigungspolitik voranzubringen. Genau wie die Migration – ein weiteres Schwerpunktthema des Gesprächs – sei die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ein Bereich, in dem die Europäer gemeinsam mehr erreichen können als jedes Mitgliedsland allein, so der EU-Kommissionspräsident.
Neben der Umsetzung des Juncker-Plans durch Südtirol, den grenzüberschreitenden Mobilitätsprojekten, war die Regionalpolitik ein Gesprächsthema mit besonderem Lokalbezug. Dabei wurde über die Berglandwirtschaft, die Beibehaltung der Strukturfonds auch nach 2020 und die europäische Alpenstrategie EUSALP als gemeinsame neue europäische Initiative gesprochen.
Im Hinblick auf die Konferenz in Bozen sprachen Juncker und Kompatscher auch über den Minderheitenschutz, wobei Landeshauptmann Kompatscher auf die Europäische Bürgerinitiative des FUEN verwies. In diesem Zusammenhang sprachen die beiden Politiker die Rolle der Regionen in Europa als Vehikel des europäischen Gedankens sowie der europäischen Entwicklung an. Sie stimmten überein, dass die Regionen ein zentrales Bindeglied zwischen Bürgern und Europa sein sollten und in diesem Sinne auch dem europäische Ausschuss der Regionen eine besonders tragende Rolle zukomme und der AdR die volle Aufmerksamkeit der europäischen Institutionen verdiene.
Autonomiekonferenz: Südtirol baut auf Europa
Rund 600 Menschen waren bei der Konferenz “70 Jahre Pariser Vertrag: Autonomie und Föderalismus in Europa” mit EU-Kommissionspräsident Juncker in Bozen dabei.
„Für Südtirol ist Europa eine Vision, eine Perspektive und eine Chance“, betonte Landeshauptmann Arno Kompatscher heute, 18. November, bei der Eröffnung der Konferenz „70 Jahre Pariser Vertrag: Autonomie und Föderalismus in Europa“ an der Universität Bozen. „Wir wollen uns ins Bewusstsein rufen, worauf wir die erfolgreiche Entwicklung Südtirols bauen durften und darüber reden, welches der Weg Südtirols und der Europaregion in die Zukunft sein soll“, unterstrich Kompatscher.
„Folgend auf die Tagung zum historischen Kontext des Pariser Abkommens am 5. September geht es bei der heutigen Konferenz vor allem um den rechtlichen Aspekt und die Entwicklung des Minderheitenschutzes in Italien und in Europa, die Schutzfunktion Österreichs sowie die Bedeutung der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino. Da trifft es sich gut, dass auch der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, heute unser Gast ist“, sagte der Landeshauptmann.
Begrüßen konnte Landeshauptmann Kompatscher unter den rund 600 Konferenzteilnehmern Bischof Ivo Muser, die Landeshauptleute Ugo Rossi (Trentino) und Günther Platter (Bundesland Tirol), Alt-Landeshauptmann Luis Durnwalder, den Universitätspräsidenten Konrad Bergmeister, den Vizerektor der Universität Innsbruck Bernhard Fügenschuh, Europaparlamentarier Herbert Dorfmann, die Landtagspräsidenten von Südtirol und des Trentino, die Mitglieder der Südtiroler Landesregierung, den Vorsitzenden des Südtirol-Unterausschusses Hermann Gahr, die Abgeordneten und Senatoren zum römischen Parlament, zahlreiche Südtiroler Bürgermeister, Vertreter der Gerichtsbarkeit, Staatsvertreter, den Generalkonsul der Republik Österreich Wolfgang Spadinger sowie die Mandatare des Landtags und des Regionalrats, Vertreter aus den Bereichen Wissenschaft und Kultur sowie der Verbände und zahlreiche Führungskräfte der Landesverwaltung. Besonders begrüßte der Landeshauptmann die Studierenden, die „die Zukunft unseres Landes und Europas gestalten werden“.
Der Hausherr, Universitätspräsident Bergmeister, verwies in seinem Grußwort auf Wilhelm Leibniz, dem Vordenker Europas, der eigene Sprache und Kultur als Werte definiert hatte. Bergmeister unterstrich, dass in Europa Minderheiten als Mehrwert erkannt werden sollten. Der Vizerektor der Universität Innsbruck Bernhard Fügenschuh berichtete bei seiner Begrüßung über die enge Zusammenarbeit der Universitäten im Sinne der Europaregion.
Die Professorin für Völkerrecht an der Universität Wien, Christina Binder, analysierte in ihrem Referat die Auswirkungen des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes auf den Pariser Vertrag in den vergangenen sieben Jahrzehnten. Sie zeichnete auch die zentralen Entwicklungen des völkerrechtlichen (Menschenrechts- und) Minderheitenschutzes im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Bestimmungen des Pariser Vertrages nach. Binder zeigte auf, dass der Schutz des Pariser Vertrags zwar im Prinzip den völkerrechtlichen Minderheitenschutz übersteige, trotzdem böten die Entwicklungen der vergangenen 70 Jahre das Potenzial für eine Dynamisierung der Minderheitenschutzbestimmungen .
Auf die Entwicklung des Minderheitenschutzes aus verfassungsrechtlicher Sicht und die Rolle des Pariser Vertrags ging Antonio D’Atena ein, der an der Universität „Tor Vergata“ in Rom Verfassungsrecht, an der LUISS Autonomierecht und an der Universität von Granada europäisches Verfassungsrecht lehrt. D’Atena zitierte George Orwell und bezeichnete die Südtirolautonomie als „besonders unter den Besonderen“ in Italien. Der Professor verwies auf deren internationalen Modellcharakter. Gerade das Pariser Abkommen mache darauf aufmerksam, dass die Autonomie im Beratungswege weiterentwickelt werden solle, also aufgrund von Gesprächen, der Zusammenarbeit und dem Mitwirken aller, so D’Atena. Nach der anstehenden Verfassungsreform könne die Autonomie nur aufgrund eines Übereinkommens geändert werden. Das Pariser Abkommen habe weiterhin eine Funktion, und zwar über die Schutzmacht Österreichs den Schirm für die Südtirol Autonomie zu bieten, erklärte D’Atena.
Der Europa- und Völkerrechtsexperte Universitätsprofessor Walter Obwexer, Sprecher des Forschungszentrums für Europäische Integration an der Uni Innsbruck, Studiendekan und Vize-Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Innsbruck sowie wissenschaftlicher Berater der österreichischen Bundesregierung und des Landes Südtirol ging auf den supranationalen Kontext der Südtirol Autonomie ein und fasste sechs Jahrzehnte europäische Integration und zwei Jahrzehnte EU-Mitgliedschaft Österreichs zusammen. „Die sich aus dem Pariser Abkommen ergebende Schutzfunktion Österreichs in der EU werde zwar durch das Unionsrecht begrenzt, aber gleichzeitig gebe es zusätzlich völkerrechtliche Mittel wie Gespräche, Verhandlungen usw., die sich aus der Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten für die Schutzmacht ergeben würden, sagte Obwexer.
Der Botschafter, Leiter des Völkerrechtsbüros im Bundesministerium in Europa, Integration und Äußeres sowie Professor an der Uni Graz Helmut Tichy beschrieb, wie Österreich die Schutzfunktion in der Vergangenheit wahrgenommen hat und nun wahrnimmt: einerseits bilateral gegenüber Italien, wenn es von Südtirol darum ersucht wird, und andererseits in internationalen Organisationen und Gremien durch sein generelles Engagement für Fragen des Minderheitenschutzes und für die Interessen Südtirols. Tichy hob vor allem die für die Schutzfunktion so wichtigen politischen Kontakte, Absprachen und Treffen hervor.
Jens Woelk, Professor für Vergleichendes Verfassungsrecht an der Uni Trient, Forscher an der Europäischen Akademie in Bozen und Forscher im Bereich Föderalismus, Regionalismus und Minderheitenrecht sprach über ein Jahrzehnt regionale Zusammenarbeit in der EU im Allgemeinen und der Europaregion Tirol-Südtiol-Trentino als europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit im Besonderen. Woelk beschrieb die Überwindung von Grenzen als Symbol für die europäische Integration und verwies auf das große Potential hinsichtlich der Zusammenarbeit in vielen Bereichen. Obwohl die Europaregion ein effizientes Instrument zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sei, müsse aber auch das Verhältnis zu den Staaten und zu Europa gepflegt werden, so Woelk.
Abgeschlossen wurde die Konferenz, die auf Initiative des Landeshauptmanns vom Land Südtirol in Zusammenarbeit mit der Universität Innsbruck an der Freien Universität Bozen ausgerichtet wurde mit der Rede des hochrangigen Tagungsgasts Jean-Claude Juncker (siehe eigene Mitteilung). Der Präsident der Europäischen Kommission sprach über “Das Prinzip der Subsidiarität und die Perspektiven der Regionen in der Europäischen Union von heute”.