Der Flüchtlingsstrom aus Berg-Karabach reißt nicht ab

Fast alle Armenier aus Berg-Karabach nach Armenien geflohen

Samstag, 30. September 2023 | 17:17 Uhr

Von: APA/Reuters/AFP

Zehn Tage nach dem aserbaidschanischen Sieg in Berg-Karabach sind nahezu alle Armenier aus der Kaukasusregion geflohen. 100.417 Flüchtlinge seien in Armenien registriert worden, teilte eine Sprecherin des armenischen Regierungschefs Nikol Paschinjan am Samstag mit – das sind fast alle der geschätzt 120.000 armenischen Einwohner von Berg-Karabach. In Jerewan gingen indes zahlreiche Menschen auf die Straße, um ihre Unterstützung mit Berg-Karabach zu bekunden.

Nach Angaben eines früheren Behördenvertreters der selbst ernannten Republik Berg-Karabach waren am Samstag die “letzten” Flüchtlingsgruppen Richtung Armenien unterwegs. Höchstens “ein paar hundert” Menschen, darunter hauptsächlich Beamte oder Mitarbeiter von Rettungsdiensten und Freiwillige, befänden sich laut inoffiziellen Informationen noch in Berg-Karabach, schrieb Artak Beglarjan im Onlinedienst Twitter (X). Jerewan beschuldigt Baku der “ethnischen Säuberung” in der Region.

Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium kündigte seinerseits “Vergeltungsmaßnahmen” an, nachdem ein aserbaidschanischer Soldat an der Grenze zu Armenien von einem Heckenschützen getötet worden sei. Der Soldat sei am Nachmittag auf aserbaidschanischem Territorium “vom Dorf Kut in Armenien aus” beschossen und getötet worden, teilte das Verteidigungsministerium in Baku mit. Einheiten der aserbaidschanischen Streitkräfte würden “Vergeltungsmaßnahmen” ergreifen.

Armenien wies den Vorwurf am Samstag umgehend zurück. Die Darstellung Bakus, wonach armenische Soldaten das Feuer auf aserbaidschanische Stellungen eröffnet hätten, “entspreche nicht der Realität”, schrieb das armenische Verteidigungsministerium im Onlinedienst Telegram.

Armenien bat die Europäische Union italienischen Angaben zufolge um Hilfe bei dem Zustrom Geflüchteter aus Berg-Karabach. Armenien habe um Medizinbedarf und Notunterkünfte gebeten, teilte das Büro der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni am Samstag mit.

Die Vereinten Nationen haben für das Wochenende die erste UNO-Mission seit über 30 Jahren für Berg-Karabach angekündigt, vor allem für humanitäre Hilfe. Frankreich kritisierte diese “begrenzte” und verspätete Genehmigung der UNO-Mission durch Aserbaidschan. Sie sei erst nach der Massenflucht der Menschen “unter dem komplizenhaften Blick Russlands” erteilt worden, erklärte das Außenministerium in Paris am Samstag. Zugleich bekräftigte es Frankreichs “Engagement zur Unterstützung der Souveränität und territorialen Integrität Armeniens, wohin diese Menschen geflohen sind”.

Zuvor hatte Armenien den Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag aufgefordert, Sofortmaßnahmen zum Schutz der Bewohner in Berg-Karabach zu ergreifen. Der IGH solle sicherstellen, dass Baku die verbliebenen ethnischen Armenier nicht aus der Region vertreiben oder die “sichere und schnelle Rückkehr” derjenigen verhindern darf, die bereits geflohen sind.

Aserbaidschan hatte am 19. September eine großangelegte Militäroffensive in der Region gestartet. Bereits einen Tag später erklärten die dortigen pro-armenischen Kämpfer ihre Kapitulation. Am Donnerstag dann wurde die Auflösung der selbst ernannten Republik Berg-Karabach zum 1. Jänner 2024 verkündet. Berg-Karabach, das überwiegend von Armeniern bewohnt war, werde damit “aufhören zu existieren”, hieß in einem Dekret.

Der Schritt markiert vorerst das Ende eines der längsten und scheinbar unlösbarsten “eingefrorenen Konflikte” der Welt – den das autoritär regierte Aserbaidschan schließlich für sich entschied, während Armeniens langjähriger Verbündeter Russland die aserbaidschanischen Truppen gewähren ließ.

Berg-Karabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, es lebten dort bisher aber überwiegend ethnische Armenier. Die Region hatte sich 1991 nach einem international nicht anerkannten und von der aserbaidschanischen Minderheit boykottierten Referendum für unabhängig erklärt.

Aserbaidschan und Armenien stritten seit dem Zerfall der Sowjetunion um die Region und führten deshalb zwei Kriege, zuletzt 2020. Damals hatte Russland nach sechswöchigen Kämpfen mit mehr als 6.500 Toten ein Waffenstillstandsabkommen vermittelt, das Armenien zur Aufgabe großer Gebiete zwang.

Armeniens Regierungschef Paschinjan sieht sich nach dem Verlust der seit Jahrhunderten von Armeniern bewohnten Region verstärktem innenpolitischen Druck ausgesetzt. Am Samstag bekundeten rund 2.000 Demonstranten in Jerewan ihre Unterstützung für den von Aserbaidschan inhaftierten Anführer der pro-armenischen Kräfte in Bergkarabach, Ruben Wardanjan.