Von: ka
Bozen – Mit spektakulären Flammenschriften wie „Iatz“ und „Freiheit“ wollen die Schützen den Schwung des neuen Landesgesetzes, mit dem Südtirol eine eigenständige Phase zwei einläutete, nutzen, um ihre eigenen politischen Vorstellungen für die Zukunft voranzutreiben. Es ist aber alles andere als neu, „offen und breitgefächert über politische Visionen und Modelle nachzudenken und zu diskutieren“. Das geschieht in Südtirol bereits seit Jahrzehnten und steht unserer autonomen Demokratie auch gut zu Gesicht.
Gemeinsam ist diesen Diskussionen aber, dass sie vollkommen losgelöst von der gültigen politischen und ökonomischen Ordnung Europas – sozusagen im luftleeren Raum – stattfinden. In der europäischen Vergangenheit wurden Schwächephasen von Staaten von ihren Nachbarn gerne dazu benutzt, um sie zu Gebietsabtretungen zu zwingen oder sie unter sich aufzuteilen. Wendete sich aber das Kriegsglück, rollte die mutwillig losgetretene Welle der Gewalt in die Heimat zurück. Europa zog daraus seine Lehren und schuf eine Ordnung, die für die Überwindung und nicht mehr Verschiebung von Grenzen steht. Dass diese erfolgreiche Ordnung, die seit 75 Jahren für Frieden sorgt, notfalls auch hart verteidigt und durchgesetzt wird, davon können die katalanischen Nationalisten und Unabhängigkeitsbefürworter ein Lied singen.
Eine weitere Schwäche der „Visionen und Modelle“ ist, dass sie jeglicher Vorstellungen entbehren, wie ein gerechtes Miteinander in einem von drei Sprachgruppen bewohnten Land in Zukunft aussehen soll – ein Manko, das bei vielen zu Recht für Ängste sorgt. Südtirol bewies mit dem eigenen Corona-Phase-zwei-Gesetz, dass ein eigenständiger Weg auch im krisengebeutelten Italien möglich ist. Es ist daher ein Unding, ausgerechnet in der noch lange nicht ausgestandenen Corona-Krise vergilbten Luftschlössern nachzuhängen, die international eigentlich nur mehr mit einem Achselzucken kommentiert werden.
Man kann Südtirol neu denken, ohne an Grenzen zu rütteln und ohne den international gültigen Rechtsrahmen zu verlassen. Anstatt mit leeren Slogans und riesigen Feuerschriften, für deren Entzündung es nur ein paar Dutzend gut organisierte Leute braucht, irgendeinen „Volkswillen“ suggerieren zu wollen, könnten sich die Schützen in diesen Denkprozess einbringen. Denn „Visionen und Modelle“ brauchen nicht notgedrungen eine neue Grenze, die in jedem Fall nur alte Wunden durch neue ersetzt.