Von: APA/Reuters/dpa
Kurz vor dem geplanten Beginn der Waffenruhe im Gazastreifen gibt es neue Probleme zwischen den Kriegsparteien. Die islamistische Hamas legte laut israelischen Angaben bisher keine Liste mit den Namen der ersten drei Geiseln vor, die am Sonntag planmäßig freigelassen werden sollen. “Israel wird Verstöße gegen das Abkommen nicht tolerieren”, warnte am Samstag Israels Premier Benjamin Netanyahu. Ohne die Namensliste werde Israel die Umsetzung des Abkommens nicht fortführen.
Netanyahu nannte als Bedingung für eine Einhaltung der vereinbarten Waffenruhe die Übergabe einer Liste der ersten Gruppe aus 33 freizulassenden Geiseln durch die Hamas. “Wir werden die Vereinbarung erst dann umsetzen, wenn wir die vereinbarte Liste der Geiseln erhalten haben, die freigelassen werden.” Aus Kreisen der Hamas hieß es, die Organisation werde die Liste mit den Namen der ersten drei Geiseln in den kommenden Stunden übermitteln.
Netanyahu droht mit Abbruch der Waffenruhe
Nichtsdestotrotz drohte Netanyahu mit einer Wiederaufnahme der Kampfhandlungen im Gazastreifen für den Fall, dass sich die vereinbarte Waffenruhe als sinnlos erweisen solle. Er habe dafür den Rückhalt des designierten US-Präsidenten Donald Trump wie auch seines Vorgängers Joe Biden. “Falls wir zum Kampf zurückkehren müssen, werden wir das auf neue, energische Weise tun”, sagte Netanyahu am Samstagabend in einer Videoansprache. “Präsident Trump und Präsident Biden unterstützen vollständig Israels Recht, in den Kampf zurückzukehren, falls Israel zu dem Schluss kommt, dass die Verhandlungen über Phase B aussichtslos sind.”
Die Hamas muss Israel gemäß der Vereinbarung 24 Stunden im Voraus über die Namen der freizulassenden Geiseln informieren. Israelischen Medien zufolge sollen zunächst drei aus Israel entführte Zivilistinnen freikommen. Die Hamas hätte die Liste den Berichten zufolge um 16.00 Uhr Ortszeit (15.00 Uhr MEZ) übergeben müssen. Laut der israelischen Nachrichtenseite “Ynet” war die Freilassung der ersten Geiseln am Sonntag um 15.00 Uhr MEZ geplant.
Während der zwischen Israel und der Hamas vereinbarten Waffenruhe sollen der israelischen Regierung zufolge insgesamt 1.904 Palästinenser aus israelischen Gefängnissen und Lagern entlassen werden. Im Gegenzug muss die Hamas während der sechswöchigen Waffenruhe, die Sonntagfrüh beginnen soll, 33 von insgesamt 98 israelischen Geiseln freilassen. Ägypten nannte am Samstag die Zahl von ” mehr als 1890 palästinensischen Häftlinge”, die freigelassen werden sollten.
Die Waffenruhe soll nach Angaben des Vermittlers Katar am Sonntag um 7.30 Uhr MEZ in Kraft treten. Zuvor hatte es geheißen, die Feuerpause solle um 11.15 Uhr MEZ beginnen. Laut der israelischen Nachrichtenseite “Ynet” ist die Freilassung der ersten Geiseln unverändert um 15.00 Uhr MEZ geplant.
Austausch von etwa 57 Palästinensern pro israelischer Geisel
Im Laufe der zunächst nur auf sechs Wochen angelegten Waffenruhe soll Israel insgesamt 1.904 Palästinenser freilassen, wie die Regierung in Jerusalem mitteilte. Das wären etwa 57 Palästinenser für jede der im selben Zeitraum auszutauschenden 33 israelischen Geiseln. Wie die APA am Donnerstag aus informierten Kreisen erfuhr, soll unter den ersten 33 Geiseln auch der österreichisch-israelische Doppelstaatsbürger Tal Shoham sein.
Bei den Palästinensern handelt es sich nach Regierungsangaben um 1.167 festgenommene Bewohner des Gazastreifens, die nicht an dem Massaker der Hamas und anderer Extremisten aus dem Küstenstreifen vom 7. Oktober 2023 in Israel mit 1.200 Toten und mehr als 250 Verschleppten beteiligt waren, teilte die Regierung weiter mit. Hier dürften vor allem Hamas-Kämpfer freikommen, die während der vergangenen mehr als 15-monatigen Kämpfe gefangen genommen wurden.
Auch verurteilte Mörder sollen auf freien Fuß kommen
Die anderen 737 freizulassenden Palästinenser sind Häftlinge, die wegen leichterer Delikte wie Steinwürfe im Westjordanland oder illegalem Grenzübertritt sowie auch illegalen Waffenbesitzes oder anderer Gesetzesverstöße inhaftiert oder verurteilt wurden. Darunter sind aber auch Häftlinge, die wegen schwerer Straftaten wie etwa Mord einsitzen, wie die Zeitung “Jerusalem Post” berichtete. Das israelische Justizministerium veröffentlichte eine Liste mit insgesamt 22 Häftlingen, denen schwere Angriffe auf Israelis vorgeworfen werden.
Die Zeitung “Jerusalem Post” berichtete, dazu gehöre etwa Zakaria Zubeidi. Er war während des zweiten Palästinenseraufstands Intifada ab 2000 Befehlshaber des militärischen Arms der Fatah-Bewegung, der Al-Aqsa-Brigaden, in Jenin im nördlichen Westjordanland. Dabei wurden von 2000 bis 2005 rund 3.500 Palästinenser getötet, mehr als 1.000 Israelis starben bei Anschlägen von Palästinensern.
Auf der Liste der freizulassenden Häftlinge stand auch Mahmoud Atallah, der eine lebenslange Haftstrafe plus 15 Jahre für die Ermordung einer Palästinenserin verbüßt, die der Kollaboration mit Israel beschuldigt wurde. Weitere Namen umfassen Wael Kassem und Wizam Abbasi, die an Bombenanschlägen in Israel mit Dutzenden Toten beteiligt gewesen sein sollen. Das israelische Justizministerium veröffentlichte eine Liste mit insgesamt 22 Häftlingen, denen schwere Angriffe auf Israelis vorgeworfen werden.
Nicht freigelassen werden soll hingegen der prominenteste palästinensische Häftling in Israel, Marwan Barghouti aus der Führungsebene der Fatah-Bewegung. Er war 2004 wegen fünffachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
Was außer dem Austausch Geiseln gegen Häftlinge geplant ist
Der Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und Gaza soll wieder öffnen und die Einfuhr humanitärer Hilfe für die Palästinenser deutlich aufgestockt werden. Allerdings ist offen, wann der seit Mai geschlossene Übergang wieder geöffnet werden könnte.
Israels Militär soll aus dicht besiedelten Gebieten des Gazastreifens abziehen. Die in den Süden des abgeriegelten Küstenstreifens geflohenen Einwohner sollen sich wieder frei bewegen und unter internationaler Aufsicht in ihre Wohngebiete im Norden Gazas zurückkehren dürfen.
Die Details der zweiten und dritten Phase des Abkommens über ein dauerhaftes Ende des Krieges und einen kompletten Abzug Israels aus dem Gazastreifen wollen die Konfliktparteien während der ersten Phase klären.
Hält das Abkommen?
Wie stabil das Abkommen langfristig sein wird, ist angesichts des tiefen Misstrauens zwischen beiden Seiten fraglich. So müssen sich beide Kriegsparteien unter anderem noch über die Listen der restlichen freizulassenden Hamas-Geiseln sowie der von Israel freizulassenden Häftlinge einigen. Unter den Verschleppten sind auch Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft. Offen sind auch der Zeitplan und das Ausmaß des Rückzugs des israelischen Militärs aus dem Gazastreifen sowie die Frage, wie das relativ kleine Gebiet am Mittelmeer nach dem Ende des Krieges regiert werden soll.
Die gemäßigte Autonomiebehörde von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas im Westjordanland will Medienberichten zufolge möglichst bald wieder die alleinige Kontrolle über den Küstenstreifen übernehmen. Die Hamas hatte sie 2007 gewaltsam vertrieben. Eine Rückkehr der Autonomiebehörde in den Gazastreifen wird auch von Israels westlichen Verbündeten unterstützt. Netanyahu lehnt das jedoch ab. Einen eigenen Plan für die Zukunft des Gazastreifens legte er bisher nicht vor.
SPÖ und Grüne begrüßen das Abkommen
SPÖ und Grüne begrüßten das Abkommen. “Das Abkommen markiert einen wichtigen Schritt hin zu einer dringend notwendigen Deeskalation im Nahen Osten”, betonte SPÖ-Nationalratsabgeordnete Petra Bayr. Für die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Meri Disoski, wurde mit der Vereinbarung ein “wichtiger Durchbruch” erzielt.
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