Von: APA/dpa/Reuters
Die mächtige libanesische Hisbollah-Miliz droht Israel mit einem Angriff auf neue Ziele, sollte das israelische Militär Zivilisten im Libanon attackieren. “Weiterhin Zivilisten anzugreifen wird die Widerstandsbewegung dazu veranlassen, Raketen auf Siedlungen abzufeuern, die bisher nicht im Visier waren”, sagte Hisbollah-Anführer Sayyed Hassan Nasrallah am Mittwoch. In der Nacht hatte die proiranische Miliz den Norden Israels massiv mit Raketen geschossen.
Die Hisbollah erkennt Israel als Staat nicht an und bezeichnet alle israelischen Bevölkerungszentren als Siedlungen – gemeint sind damit nicht die jüdischen Siedlungen im von Israel besetzten Westjordanland. Die Hisbollah ist mit der Hamas im palästinensischen Gazastreifen verbündet und liefert sich seit geraumer Zeit Scharmützel mit dem israelischen Militär über die Grenze zwischen dem Libanon und Israel hinweg. Israel hat wiederholt nach eigenen Angaben Hisbollah-Stellungen im Libanon angegriffen und gezielt mehrere Kommandanten der Miliz getötet.
Der nächtliche Raketenhagel der Hisbollah auf den Norden Israels schürt die Sorge vor dem Ausbruch eines neuen Krieges. Die proiranische Schiitenmiliz feuerte bis in die Morgenstunden Dutzende Raketen in mehreren Angriffswellen ab. Die Hisbollah reagierte damit nach ihren eigenen Angaben auf den Tod von fünf Syrern bei israelischen Angriffen im Süden des Libanon, darunter drei kleine Kinder. Am Tag zuvor waren mindestens drei libanesische Zivilisten getötet worden. Im Libanon wurden seit Beginn der Kämpfe einer Reuters-Zählung zufolge über 100 Zivilisten und über 300 Hisbollah-Kämpfer getötet. In den libanesischen Ortschaften an der Grenze kam es zu einer Zerstörung wie es sie seit dem Krieg zwischen Israel und dem Libanon im Jahr 2006 nicht mehr gab.
Israels Armee fing einige Raketen der Hisbollah nach eigenen Angaben ab, andere seien auf offenes Gelände gefallen. Bis zum späten Abend habe es keine Verletzten gegeben. In der Früh meldete die Armee dann erneuten Raketenalarm. Die israelische Luftwaffe griff in Reaktion auf den Raketenbeschuss Stellungen der Hisbollah im Süden des Libanon an, wie das Militär mitteilte. Keine der Angaben konnte unabhängig geprüft werden.
Die staatliche libanesische Nachrichtenagentur NNA berichtete zuvor, dass bei einem israelischen Drohnenangriff auf ein Agrargebiet im Süden des Libanon drei syrische Kinder im Alter zwischen fünf und zehn Jahren getötet worden seien. Bei einem weiteren israelischen Drohnenangriff auf ein Motorrad seien zudem zwei syrische Männer getötet worden. Israel und die Hisbollah liefern sich seit Beginn des Gaza-Kriegs nahezu täglich Gefechte. Es besteht die wachsende Sorge, dass es zu einem regelrechten Krieg kommt.
Israel will, dass sich die Hisbollah hinter den 30 Kilometer von der Grenze entfernten Litani-Fluss zurückzieht – so wie es eine UNO-Resolution vorsieht. Die Schiitenmiliz will mit dem Beschuss Israels aber erst aufhören, wenn es zu einem Waffenstillstand im Gazakrieg zwischen Israel und der mit ihr verbündeten radikalislamischen Hamas kommt. Danach sieht es jedoch im Moment nicht aus. Die indirekten Verhandlungen, bei denen die USA, Katar und Ägypten vermitteln, sollen in dieser Woche in Doha oder in Kairo fortgesetzt werden.
Dabei geht es um den Austausch der noch rund 120 verbliebenen Geiseln in der Gewalt der Hamas gegen palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen sowie eine Waffenruhe. Israel lehnt bisher die Forderung der Hamas nach einer dauerhaften Waffenruhe ab. Israels Militäreinsatz im Gazastreifen hat jedoch nach den Worten des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant die notwendigen Voraussetzungen geschaffen, die eine Vereinbarung über die Freilassung der Geiseln aus der Gewalt der Hamas ermöglichen. Das sei zum jetzigen Zeitpunkt das höchste moralische Gebot, sagte er in einem nächtlichen Telefonat mit US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, wie Gallants Ministerium mitteilt.
Die Militärbefehlshaber der Hamas im umkämpften Gazastreifen drängen einem Medienbericht zufolge nach US-Erkenntnissen ihren Anführer Jihia al-Sinwar inzwischen zu einem Waffenstillstandsabkommen mit Israel. Das habe CIA-Direktor Bill Burns auf Basis von US-Geheimdienstinformationen auf einer Unternehmerkonferenz in den USA hinter verschlossenen Türen gesagt, zitierte der US-Sender CNN eine informierte Quelle. Demnach dürfte sich Al-Sinwar derzeit in Tunneln unter Khan Younis im Süden Gazas versteckt halten.
Al-Sinwar gilt als maßgeblicher Planer des Massakers in Israel vom 7. Oktober. Dabei wurden rund 1.200 Israelis getötet und rund 250 Menschen nach Gaza verschleppt. Der Überfall war Auslöser des Gaza-Krieges. Al-Sinwar ist für die Hamas der wichtigste Entscheidungsträger, wenn es darum geht, ein Abkommen zu akzeptieren. Burns sagte der Quelle zufolge, Al-Sinwar sei nicht “besorgt um seine Sterblichkeit”. Er stehe aber unter Druck angesichts wachsenden Unmuts seiner Leute über das enorme Leiden, das der Krieg über die Palästinenser bringe.
Die israelische Armee hat nach eigenen Angaben inzwischen die Hälfte der Führungsriege des militärischen Hamas-Flügels getötet. Seit Kriegsbeginn vor mehr als neun Monaten seien “etwa 14.000 Terroristen eliminiert und festgenommen” worden, teilte das Militär mit. Ob es sich dabei ausschließlich um Mitglieder der Hamas oder aber auch um Mitglieder anderer Terrorgruppen handelte, gab die Armee nicht bekannt. Vor Kriegsbeginn soll es nach Schätzungen des Militärs rund 30.000 Hamas-Kämpfer gegeben haben.
Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden seit Beginn des Krieges mindestens 38.713 Menschen getötet. Auch diese Angaben, die nicht zwischen Zivilisten und Kämpfer unterscheiden, lassen sich derzeit nicht unabhängig verifizieren. Israel steht wegen der vielen Opfer unter der palästinensischen Bevölkerung und der immensen Schäden in dem abgeriegelten Küstenstreifen international stark in der Kritik.