Hinweise für eine israelische Bodenoffensive verdichten sich

Israelische Armee kündigt Bodenoffensive an

Samstag, 14. Oktober 2023 | 22:43 Uhr

Von: APA/Reuters/dpa

Die israelische Armee hat eine Bodenoffensive gegen die im Gazastreifen herrschende Hamas angekündigt. Man bereite sich auf einen “integrierten und koordinierten Angriff aus der Luft, vom Meer und dem Land” auf die islamistische Gruppe vor, teilte die Armee am Samstagabend in Tel Aviv mit. Die Vorbereitungen, zu denen auch die Einberufung von Hunderttausenden Reservisten zählen, stünden vor dem Abschluss. Ein Armeesprecher sagte, dass die Operation “viel Zeit brauchen” werde.

Einsatzkräfte seien bereits im ganzen Land stationiert und bereit, “die Bereitschaft für die nächsten Phasen des Krieges zu erhöhen, wobei der Schwerpunkt auf einer bedeutenden Bodenoperation” liege, hieß es weiter. Man bereite eine “breite Palette von Plänen für Offensivoperationen” vor. Kurz zuvor hatte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu die nächste Phase im Krieg gegen die Terrorgruppe angekündigt. Bei einem Truppenbesuch nahe der Grenze zum Gazastreifen sagte er am Samstag zu den Soldaten: “Seid ihr bereit für die nächste Phase? Die nächste Phase kommt.” In dem Video war zu sehen, wie die Soldaten nickten.

“Unser Ziel ist es, die Regierungs- und Militärkapazitäten der Hamas und anderer Terrororganisationen vollständig zu zerstören”, sagte der Armeesprecher. Die Bewohner von Gaza-Stadt sollen ihre Häuser verlassen “und nicht zurückkehren, bevor wir es nicht sagen”, betonte er. Die Hamas versuche die Evakuierungen zu verhindern, fügte er hinzu. Anlass für das israelische Vorgehen ist ein beispielloses Massaker mit mehr als 1.300 Toten am vergangenen Wochenende in israelischen Grenzgebieten zum Gazastreifen.

Unterdessen gab es neuerlich Raketenangriffe vom Gazastreifen auf Tel Aviv und Zentralisrael. Zehn Raketen seien Richtung des Großraums der Küstenmetropole abgefeuert worden, meldeten israelische Medien. Berichte über Verletzte gab es zunächst nicht. Schon am Vormittag und am Nachmittag hatte es Raketenalarm gegeben. Auch im Süden des Landes wurde wieder Raketenalarm ausgelöst. Am Abend berichtete die israelische Armee auch, dass zwei Raketen von Syrien aus nach Israel abgefeuert worden seien. Sie seien in freiem Gelände niedergegangen. Das Militär habe mit Artilleriefeuer auf den Beschuss reagiert. Wer für den Abschuss verantwortlich war, war zunächst unklar. Sysrien Aktivisten zufolge soll es eine eng mit der libanesischen Hisbollah verbundene Miliz gewesen sein.

US-Präsident Joe Biden beriet am Samstag sowohl mit Netanyahu als auch mit dem palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas. Dieser habe das Ende aller Angriffe gefordert und die von Israel geforderte Evakuierung des Gazastreifens “rundweg” abgelehnt. Zuvor hatten schon Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien und die Türkei scharfe Kritik an der Forderung Israels geübt. Auch die UNO forderte einen Widerruf der Anordnung. Am Samstagabend forderte die Weltgesundheitsorganisation WHO, den Aufruf zur Evakuierung von Spitälern im Norden des Gazastreifens “sofort” zurückzunehmen.

Dass es eine Bodenoffensive geben wird, gilt seit Donnerstag als ausgemacht. Damals hatte die israelische Armee die Bevölkerung im nördlichen Gazastreifen ultimativ aufgerufen, sich in den Süden des schmalen Küstenstreifens zu begeben. Nach Auslaufen des Ultimatums gab die Armee den Bewohnern am Samstag neuerlich sechs Stunden Zeit, sich auf einer eingezeichneten Fluchtroute nach Khan Yunis zu begeben. Vom Evakuierungsaufruf war eine Million Menschen betroffen. Hunderttausende Menschen haben sich laut der Armee bereits auf den Weg in Richtung Süden gemacht. “Wir sind uns im Klaren, dass dies Zeit brauchen wird”, sagte Militärsprecher Richard Hecht am Samstag.

Die im Gazastreifen herrschende Terrorgruppe Hamas benutzt die Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde und lehnte eine Evakuierung ab. Die Palästinenser würden weder den Gazastreifen noch das Westjordanland verlassen und nicht nach Ägypten ausreisen, sagte Hamas-Chef Ismail Haniyeh am Samstag in einer TV-Rede. “Unsere Entscheidung ist es, in unserem Land zu bleiben”, betonte er. Haniyeh warf Israel in einem Brief an UNO-Generalsekretär António Guterres Kriegsverbrechen vor und traf am Samstagabend auch den iranischen Außenminister Hussein Amirabdollahian. Das Treffen soll in der katarischen Hauptstadt Doha stattgefunden haben, zeigten Videos der staatlichen iranischen Nachrichtenagentur Irna. Das Golf-Emirat, das im Vorjahr die Fußball-WM ausrichten durfte, zählt zu den wichtigsten Unterstützern der Hamas-Terroristen.

Laut dem Wiener Außenamt befinden sich aktuell auch “rund drei Dutzend” Österreicherinnen und Österreicher samt Angehörigen im Palästinensergebiet. Alle davon seien im Süden des Gazastreifens, hieß es am Samstagabend gegenüber der APA. In Kontakt mit Ägypten und Israel bemühe man sich, allen Ausreisewilligen die Ausreise über den Grenzübergang Rafah zu ermöglichen.

Die israelische Armee vermeldete am Samstagabend den Fund von Leichen einiger Israelis, die von der radikal-islamischen Hamas verschleppt worden waren. Sie seien am Rande des Gazastreifens gefunden worden, hieß es. Später teilte ein Armeesprecher mit, dass es derzeit 126 Geiseln im Gazastreifen gebe. Die Zahl militärischer Opfer liege bei 279. Zuvor hatte die Armee berichtet, bei Angriffen auf Einsatzzentralen der Hamas im Gazastreifen auch den der mutmaßlich Verantwortlichen des Massakers an israelischen Zivilisten getötet zu haben. Merad Abu Merad, Leiter des Hamas-Luftüberwachungssystems in Gaza-Stadt, sei maßgeblich für die Steuerung der Terroristen während des Massakers verantwortlich gewesen, teilte das israelische Militär Samstag früh mit. Auch Ali Kadi, der als Kommandant einer Eliteeinheit den Überfall bewaffneter Kämpfer auf Ortschaften im Süden Israels vor einer Woche angeführt hatte, sei bei einem Luftangriff getötet worden, teilte die Armee am Samstag mit.

Die libanesische Schiiten-Miliz Hisbollah grifft am Samstag erneut israelische Stellungen an. Dabei sei ein “großer Teil der technischen Ausrüstung der Besatzer” in den Shebaa-Farmen zerstört worden, teilte die Organisation am Samstag mit. Bei einem Feuerwechsel an der Grenze habe es zwei zivile Todesopfer und mehrere beschädigte Häuser gegeben, sagte ein libanesischer Politiker am Samstag. Später meldete auch die Hisbollah ein Todesopfer, äußerte sich aber nicht zu den genauen Umständen. Der israelische Nationale Sicherheitsberater Tzachi Hanegbi betonte, dass die Aktionen der mit der Hamas verbündeten Schiitenmiliz bisher “unter der Eskalationsschwelle” seien. Israel wolle nicht in einen Zwei-Fronten-Krieg geraten. “Wir hoffen, dass Hisbollah nicht die faktische Zerstörung des Libanon auslöst”, sagte er. In der Früh hatte die israelische Armee eine “Terrorzelle” zerschlagen, die vom Libanon ins Land eindringen wollte.

Die Machthaber im Gazastreifen gaben die Zahl der getöteten Palästinenser am Samstagabend mit 2.228 an. Zudem seien 8.744 Menschen verletzt worden, teilte das Gesundheitsministerium im Gazastreifen am Samstag mit. Hamas-Angaben zufolge starben bei israelischen Luftangriffen auch neun Geiseln, darunter vier Ausländer. Von einem israelischen Luftschlag beschädigt wurde auch das christliche Al-Ahli-Arab-Spital in Gaza-Stadt. Wie der anglikanische Erzbischof von Jerusalem, Husam Elias Naoum, am Samstagabend auf Facebook mitteilte, wurden zwei Stockwerke des Gebäudes teilweise beschädigt, meldete Kathpress.

Mit großer Sorge wurde international die humanitäre Lage im vom zwei Millionen Menschen bewohnten Küstenstreifen verfolgt. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock drängte nach Gesprächen in Kairo auf rasche humanitäre Hilfe für den Gazastreifen. “Den Menschen in Gaza fehlt es gerade an allem”, sagte sie. Die EU-Kommission kündigte eine Verdreifachung der humanitären Hilfe für den Gazastreifen auf mehr als 75 Millionen Euro an. UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte am Samstag, dass die Lage im Gazastreifen “rasch untragbar” werde. Dort gebe es keinen Strom, kein Wasser, keinen Treibstoff und die Lebensmittel gingen zur Neige, so Griffiths. Die Menschheit habe im aktuellen Konflikt “versagt”, kritisierte er.

EU-Gipfelpräsident Charles Michel setzte für Dienstagnachmittag einen Videogipfel der Staats- und Regierungschefs der EU an, um die weitere Vorgangsweise der Union im Konflikt festzulegen. Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) plädierte im Ö1-“Journal zu Gast” für die Einrichtung von “humanitären Korridoren”, stellte sich aber zugleich auch klar hinter Israel. “Jedes zivile Opfer im Gazastreifen ist der Hamas zuzuschreiben”, sagte er. Es sei “beschämend und sehr beunruhigend”, dass von der Palästinenserbehörde “nicht die geringste klare Distanzierung kommt”, kritisierte Schallenberg, der sich dennoch für eine Unterscheidung zwischen dem palästinensischen Volk, der Hamas und der Fatah des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas aussprach.