Von: APA/dpa
Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu ist am Mittwoch verhaftet worden. Dem wohl wichtigsten Kontrahenten von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan wird unter anderem die Unterstützung der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen. Die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP wollte Imamoğlu am Sonntag offiziell zu ihrem Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2028 küren.
Auch Terrorvorwürfe gegen Imamoğlu
Gegen Imamoğlu wird wegen zahlreicher Vorwürfe ermittelt. Die türkische Justiz legt dem Oppositionspolitiker und Dutzenden weiteren Beschuldigten in zwei unterschiedlichen Verfahren Straftaten im Zusammenhang mit Terrorismus und organisierter Kriminalität zur Last, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Konkret gehe es dabei um den Verdacht der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Erpressung, Bestechung, Betrug und Ausschreibungsmanipulation. In dem Fall sei die Verhaftung von 99 Menschen angeordnet worden.
Gegen sieben Personen, darunter auch Imamoğlu, werde zudem wegen der Unterstützung der verbotenen Kurdenorganisation PKK ermittelt. Am Mittwoch wurden laut Anadolu 79 Menschen festgenommen, darunter auch die Bürgermeister zweier Istanbuler Gemeinden und ein bekannter Sänger.
Hintergrund für die Terrorvorwürfe gegen Imamoğlu sei eine Kooperation zwischen seiner sozialdemokratischen CHP und der prokurdischen Partei DEM bei den Kommunalwahlen, berichtete Anadolu. Dabei hatten beide Parteien zusammengearbeitet, um in Gemeinden die Mehrheit zu gewinnen. Die türkische Regierung sieht die DEM als politischen Arm der PKK. Die Partei streitet das vehement ab. In der Türkei wurden schon oft Bürgermeister, gegen die Terrorermittlungen laufen, durch regierungsnahe Zwangsverwalter ersetzt.
CHP-Chef spricht von Putschversuch
CHP-Chef Özgür Ozel sprach von einem Putschversuch und einem entscheidenden Moment für die Zukunft der türkischen Demokratie. Das Volk solle daran gehindert werden, den nächsten Präsidenten selbst zu bestimmen. Er rief die 1,7 Millionen Parteimitglieder dazu auf, trotz der Verhaftung am Sonntag an der partei-internen Wahl des CHP-Spitzenkandidaten teilzunehmen.
Die Ehefrau des festgenommenen Istanbuler Bürgermeisters sieht die Regierung als Verantwortliche für das Vorgehen gegen ihren Mann. Der wahre Grund für seine Festnahme sei, dass er seine Herausforderer an der Wahlurne besiegt habe, sagte Dilek Imamoğlu in einer Videobotschaft. “Diejenigen, die bei der nächsten Wahl nicht verlieren wollen, haben diesen seit langem geplanten Schritt getan und dabei die Demokratie mit Füßen getreten”, sagte sie weiter.
Das Büro des Gouverneurs der Provinz Istanbul verhängte eine viertägige Demonstrations-, Versammlungs- und Nachrichtensperre bis Sonntag. Laut Berichten sind zudem mehrere soziale Netzwerke sowie Kurznachrichtendienste nur eingeschränkt nutzbar. Viele Türken beschrieben Drosselungen und Beschränkungen unter anderem auf X, Youtube, Instagram, TikTok, Whatsapp, Signal, Telegram und weiteren Diensten.
Obwohl einige Straßen in Istanbul gesperrt wurden, versammelten sich rund 100 Menschen vor der Polizeiwache, in die Imamoğlu gebracht wurde. Sie skandierten mit Blick auf Erdogans Regierungspartei: “Der Tag wird kommen, an dem die AKP zur Rechenschaft gezogen wird.” Im Stadtteil Fatih versammelten sich Studierende in der Nähe der dortigen Istanbul-Universität, wie mehrere Medien berichteten.Österreich und Deutschland verurteilen Verhaftung
Österreich und Deutschland verurteilen Verhaftung
Das österreichische Außenministerium übte Kritik an der Verhaftung des Oppositionspolitikers. “Wir machen uns große Sorgen über die Inhaftierung des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem Imamoğlu! Respekt vor dem Rechtsstaat und einer starken Zivilgesellschaft sind lebensnotwendig für die Beziehung der Türkei mit Europa!”, schrieb das Ministerium am Mittwoch auf seinen Social-Media-Plattformen. Ebenso mahnte es, dass die Versammlungsfreiheit und die Redefreiheit nicht willkürlich eingeschränkt werden dürften.
Die deutsche Regierung kritisierte die Verhaftung ebenfalls scharf. Der Schritt sei “ein schwerer Rückschlag für die Demokratie in dem Land am Bosporus”, sagte der Sprecher des Auswärtigen Amts, Sebastian Fischer, am Mittwoch in Berlin. Die Festnahme reihe sich ein “in eine Serie erhöhten juristischen Drucks gegen den Istanbuler Oberbürgermeister”. Es sei “wichtig, dass die Türkei die internationalen Verpflichtungen einhält, die sie freiwillig übernommen hat, insbesondere als Mitgliedstaat des Europarats”, betonte ein Sprecher des französischen Außenministeriums in Paris.
Auch die österreichischen Grünen protestierten gegen die Verhaftung des Oppositionspolitikers. “Der türkische Präsident Erdogan hat erneut gezeigt, dass er ein Autokrat ist, der mit demokratischen Grundwerten nichts am Hut hat und alles tut, um sich selbst an der Macht zu halten”, so Meri Disoski, außenpolitische Sprecherin der Grünen, in einer Aussendung. “Die EU muss gemeinsam mit anderen Partnern verstärkt auf den Schutz der Opposition und die Freiheit von Wahlen in der Türkei hinwirken.” – “Erdoğan verfolgt das klare Ziel, alle möglichen Konkurrenten aus dem Weg zu räumen”, kommentierte die freiheitliche EU-Abgeordnete Petra Steger die Vorgänge. Die Verhaftung Imamoğlsu zeige “erneut sehr deutlich, wie stark sich die Türkei von der Demokratie entfernt hat”.
“Befinden uns im Angesicht einer großen Tyrannei”
Imamoğlu veröffentlichte in der Früh auf der Plattform X ein Video, in dem er davon sprach, dass Hunderte Polizisten vor seiner Haustür stünden. “Wir befinden uns im Angesicht einer großen Tyrannei”, schrieb er dazu. Er werde aber nicht aufgeben. Mehrere Fernsehsender berichteten, die Polizei habe sich Zutritt zu Imamoğlus Anwesen verschafft und das Gebäude durchsucht.
Das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden gegen Imamoğlu hatte sich schon vorher angekündigt. Am Dienstag war bekanntgeworden, dass die Istanbul-Universität ihm den Hochschulabschluss aberkannt hat. Dieser ist Voraussetzung zur Kandidatur für das Präsidentenamt. Hintergrund der Annullierung soll ein angeblich unrechtmäßiger Universitätswechsel sein. Imamoğlu erklärte, er wolle gegen die Entscheidung vor Gericht ziehen, habe aber das Vertrauen in faire Urteile verloren. Ihm drohen in einer Reihe weiterer Verfahren Haftstrafen und Politikverbote.
Sein Anwalt Kemal Polat hatte der Deutschen Presse-Agentur vor Bekanntwerden des Haftbefehls gesagt, Imamoğlu könne erst als Präsidentschaftskandidat antreten, wenn alle Rechtswege gegen die Entscheidung ausgeschöpft seien.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch nannte die Vorwürfe gegen Imamoğlu “politisch motiviert und an den Haaren herbeigezogen” und forderte seine sofortige Freilassung.
2024 hatte Erdoğan seine schwerste Wahlniederlage erlitten, als die CHP die großen Städte der Türkei eroberte und Erdogans regierende AKP bei landesweiten Kommunalwahlen in ihren früheren Hochburgen besiegte. Eine Stellungnahme von Erdoğans Amt zu den Vorwürfen lag zunächst nicht vor.
Finanzmärkte erschüttert
Die Nachricht von der Verhaftung erschütterte auch die Finanzmärkte in der Türkei. Die Landeswährung Lira sackte zum US-Dollar auf ein Rekordtief ab, der Aktienmarkt brach ein. An der Börse in Istanbul brach der Leitindex Borsa Instanbul 100 um fast 7 Prozent ein. Zuletzt stand noch ein Minus von 4,6 Prozent zu Buche. Auch am Anleihenmarkt gingen die Kurse auf Talfahrt.
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